zum Hauptinhalt
Gedenken an Jonny K.

© dapd

Tödliche Prügelattacke am Alexanderplatz: Der vorschnelle Ruf nach Haft verbietet sich

Nach der tödlichen Prügelattacke am Alexanderplatz steht die Justiz in der Kritik, weil sie gegen einen Verdächtigen zunächst keine Untersuchungshaft anordnete. Doch allein der Verdacht einer schweren Straftat rechtfertigt das noch nicht.

Mehmet Y., einer der Tatverdächtigen der Prügelattacke vom Alexanderplatz, muss in Haft. Viele werden mit dieser Entscheidung zufrieden sein, war die Anordnung des Ermittlungsrichters, Mehmet Y. von der Untersuchungshaft zu verschonen, in der Öffentlichkeit doch auf großes Unverständnis gestoßen. Juristisch gesehen erscheint die Sache allerdings nicht ganz so eindeutig.

Der Vorwurf gegen Mehmet Y. wiegt schwer. Dass die Umstände des Todes von Jonny K. noch nicht abschließend geklärt sind, ändert daran grundsätzlich nichts. Zwar muss der Verdacht für die Haftanordnung dringend sein, also eine große Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung vorliegen. Stehen die Ermittlungen – wie hier – jedoch noch am Anfang, ist diese Schwelle nicht allzu hoch anzusetzen. Außerdem soll Mehmet Y. seine Beteiligung gestanden haben.

Allein der Verdacht einer schweren Straftat rechtfertigt aber noch nicht die Anordnung von Untersuchungshaft. Ihr Zweck ist ausschließlich die Sicherung des Verfahrens, sie darf also nur verhängt werden, wenn dessen Durchführung andernfalls konkret gefährdet wäre. Das Gesetz spricht insoweit von Flucht- oder Verdunkelungsgefahr. Ausnahmsweise kann die Haftanordnung auch bei Wiederholungsgefahr erfolgen, dies aber nur unter sehr strengen Voraussetzungen.

Dass stets ein sogenannter Haftgrund vorliegen muss, gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sogar dann, wenn das Gesetz ausdrücklich etwas anderes sagt. Die Vorschrift des § 112 Abs. 3 StPO, wonach bei bestimmten schweren Straftaten, zum Beispiel bei Mord oder Totschlag, auf das Vorliegen eines Haftgrundes verzichtet werden kann, ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.

Sie muss nach Ansicht der Karlsruher Richter so ausgelegt werden, dass gleichwohl Umstände gegeben sein müssen, welche die Annahme von Flucht oder Verdunkelungshandlungen zumindest nahelegen. Einen Automatismus des Inhalts schwere Straftat gleich Haftgrund darf es von Rechts wegen nicht geben.

Der Ermittlungsrichter muss die konkreten Umstände des Falles deswegen genau prüfen. Bei der Prüfung von Fluchtgefahr, um die es im Fall Mehmet Y. geht, muss er berücksichtigen, ob die Strafe, die der Beschuldigte nach seiner Prognose zu erwarten hat, so schwer wiegt, dass sie einen starken Anreiz bieten kann, sich dem Verfahren zu entziehen. Dabei darf es jedoch nicht sein Bewenden haben, denn auf die Straferwartung allein kann die Annahme von Fluchtgefahr nicht gestützt werden. Es müssen vielmehr weitere konkrete Umstände hinzutreten. Allerdings gilt jedenfalls in der Praxis: Je höher die prognostizierte Straferwartung, desto geringer die Anforderungen an die Begründung im Übrigen.

Der Ermittlungsrichter hat bei seiner Entscheidung alle Umstände des Falles zu berücksichtigen, unter anderem die Lebensverhältnisse des Beschuldigten, sein Vorleben und sein Verhalten vor und nach der angeblichen Tat. Stabile familiäre und berufliche Bindungen können der Annahme von Fluchtgefahr ebenso entgegenstehen wie ein glaubhaftes Geständnis, und zwar auch dann, wenn der Vorwurf einer schweren Straftat im Raum steht.

Der Ermittlungsrichter darf bei seiner Entscheidung überdies nicht aus dem Auge verlieren, dass der Beschuldigte von Rechts wegen als unschuldig gilt – auch im Falle eines Geständnisses – und die Anordnung der Untersuchungshaft mit einem schweren Grundrechtseingriff verbunden ist, nämlich der Entziehung der körperlichen Freiheit. Er muss die für und gegen die Anordnung sprechenden Gesichtspunkte deswegen besonders sorgfältig abwägen. Einen richterlich nicht überprüfbaren Ermessensspielraum, der es ihm gestatten würde, sich im Zweifelsfalle für die Annahme von Fluchtgefahr zu entscheiden, billigt ihm das Gesetz nicht zu.

Angesichts dieses komplexen Prüfungsprogramms verbietet sich jeder vorschnelle Ruf nach Haft. Es ist ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, dass jeder Einzelfall genau geprüft wird, besonders wenn die öffentliche Aufmerksamkeit groß ist.

Der Autor ist Anwalt und Vorstand der Vereinigung Berliner Strafverteidiger e.V.

Kai Peters

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false