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Meinung: Toleranz ist mehr als nur Ertragen

Wir brauchen eine neue Kultur der Anerkennung des Anderen Von Karl Lehmann

Haben Junge und Alte, Einheimische und Zugewanderte die gleichen Grundwerte? In einer Serie von Tagesspiegel und DeutschlandRadio Kultur diskutieren prominente Autorinnen und Autoren Vorbilder, Werte und Toleranz. Zu hören sind die Beiträge sonntags um 12 Uhr 40 auf UKW 89,6.

Toleranz hat einen vielfältigen Sinn. Es bedeutet zunächst, Verschiedenartiges ernst zu nehmen und ihre Andersartigkeit gelten zu lassen. Das kann sich jedoch sehr verschieden gestalten. Es kann ein vorübergehendes Zugeständnis sein, das man bloß taktisch macht. Toleranz kann aber auch eine Form des Hinnehmens oder des Zulassens sein, die letztlich von Desinteresse und Gleichgültigkeit zeugen. Toleranz kann aber auch über das bloße Ertragen – dies ist ja die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Wortes – hinausgehen. Dann bringt man einer anderen, vielleicht sogar entgegenstehenden Meinung gegenüber Achtung zum Ausdruck. Schließlich hat dies grundlegend etwas mit der Freiheit der Person zu tun. Toleranz achtet die freie Entscheidung anderer Menschen, Gruppen, Völker, Religionen, auch andere Denk- und Sichtweisen, Lebensstile und Lebensformen. So ist die Geltung der Toleranzforderung weit über den engeren politischen Bereich hinausgewachsen.

Toleranz ist heute nicht mehr das einzige Wort für die gemeinte Sache. Es gibt in der Toleranz das Recht, anders zu sein und so mit dem Anderen zu leben. Die Unterschiede unter den Menschen, die oft mit Gewalt beseitigt worden sind, werden in unseren Verfassungen zivilisiert. Es gibt nicht nur die Möglichkeit des mehr oder minder lästigen, unwilligen „Ertragens“ abweichender Anschauungen und Gemeinschaften. Echte Toleranz ist auch bereit, Gegensätze auszuhalten und Konflikte friedlich auszutragen. Im gesellschaftlichen Dialog gibt es bei aller Toleranz gewiss auch die Möglichkeit des Widerspruchs und auch verschiedener Formen des Widerstandes, zum Beispiel in gewaltfreier Form.

Darum ist es auch nicht leicht, echte Toleranz einzuüben. Auch in unseren von der Aufklärung geprägten Gesellschaften ist es für weite Teile der Bevölkerung immer noch schwierig, das Andersartige und das Fremde, vor allem aber auch fremde Menschen aufzunehmen und gelten zu lassen. Hier kann Toleranz manchmal eine sehr herablassende Haltung bedeuten. Die Intoleranz versteckt sich manchmal hinter Gleichgültigkeit, bricht aber bei provokativen Herausforderungen durch Fremdes plötzlich durch.

Wir brauchen eine neue Kultur der Anerkennung des Anderen. Dies kann man aber nicht leisten, wenn man im Blick auf die Wahrheitsfrage einen prinzipiellen Relativismus vertritt. Es geht nicht darum, dass jemand im Besitz absoluter Wahrheiten ist, sondern dass ein Anspruch auf Wahrheit überhaupt anerkannt wird und gültig ist. Darum ist in einer modernen Gesellschaft, die grundsätzlich durch den Pluralismus gekennzeichnet ist, der verbindliche Dialog verschiedener geistiger, ethischer, spiritueller und religiöser Überzeugungen wichtig, damit mitten in aller Toleranz das Gemeinwesen auch verbindliche Maßstäbe („Grundwerte“) bereithält, um ein Minimum gemeinsamer Grundannahmen, vor allem im Blick auf das Ethos, zu gewährleisten. Dafür braucht es die Duldung anderer geistiger Standpunkte, aber eben auch den Mut zur Aufrechterhaltung und Verteidigung des eigenen Standortes, wozu Argumentation und Dialog die vorzüglichsten Mittel sind.

Der Autor ist Bischof von Mainz und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Im Februar 2001 ernannte ihn der Papst zum Kardinal.

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