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Meinung: Trialog: Neue Maßstäbe gegen Maßlosigkeit

Die Globalisierung müsse zunehmend mit Massenprotesten rechnen, die Ära einer neuen weltweiten Protestbewegung habe begonnen, diagnostiziert Antje Vollmer. Protest allein wird uns nicht weiterhelfen, Lösungen sind gefragt.

Die Globalisierung müsse zunehmend mit Massenprotesten rechnen, die Ära einer neuen weltweiten Protestbewegung habe begonnen, diagnostiziert Antje Vollmer. Protest allein wird uns nicht weiterhelfen, Lösungen sind gefragt. Das fängt mit der Suche nach den Ursachen an. Globalisierung ist nicht das Problem. Dass Entfernungen schrumpfen, Grenzen weniger trennen, weltweite Zusammenhänge bewusster werden, das kann man nicht ohne weiteres als Nachteil empfinden. Aber der Eindruck von Grenzenlosigkeit trügt. Globalisierung hebt Grenzen nicht auf, sondern setzt neue, die zum Beispiel darin liegen, dass die Ansprüche der westlichen Industriegesellschaften nicht globalisierbar sind. Also müssen wir über neue Grenzen oder Maßstäbe nachdenken.

Freiheit braucht einen Rahmen, weil sie ohne einen solchen sich selbst zerstört. Von vielen alten Begrenzungen hat sich unsere Gesellschaft befreit, Zwänge und Tabus wurden aufgehoben; aber mit der Erfahrung des "anything goes" kommen wir auch nicht so gut zurecht. Während in Genua 100 000 protestierten, feierten fast zehnmal so viele bei der Love-Parade in Berlin, und der Streit, wer für die Kosten der Müllbeseitigung aufzukommen hatte, eskalierte vor den Gerichten.

Grenzenlosigkeit hängt mit Maßlosigkeit zusammen. Das Prinzip von Markt und Wettbewerb ist wirtschaftlich die erfolgreichste Ordnung. Aber die Ökonomisierung aller Lebensbereiche führt zur Maßlosigkeit. Im Sport erleben wir, dass das klassische "citius, altius, fortius" - Ausdruck des auf Streben und Fortschritt angelegten menschlichen Wesens - bei einem Übermaß an Kommerzialisierung den Sport selbst zu zerstören droht. Doping heißt die hässliche Fratze. Die Maßlosigkeit in der Verwertung der Fernsehrechte führt im Fußball dazu, dass Millionen Fans wieder auf Radioreportagen umsteigen.

Nähe bleibt wichtig und Vertrautheit, und das ist Voraussetzung für Offenheit und Toleranz. Deshalb wirken manche Elemente unserer Zuwanderungsdebatte so unehrlich. Wer die Gebote der Globalisierung ernst nimmt, darf seine eigenen Probleme nicht auf andere abschieben wollen. Wir haben zu wenig Kinder. Wer das als einen Beitrag zur Dämpfung des explosionsartigen Wachstums der Weltbevölkerung betrachtet, übersieht, dass junge Zuwanderer aus ärmeren Weltregionen nicht auf Dauer die Wohlstands- und Sozialansprüche unserer alternden Gesellschaft erfüllen wollen. Und dabei leisten wir uns eine Arbeitsmarktregulierung, die bei Millionenarbeitslosigkeit die Nachfrage nach Arbeitskräften jeder Qualifikationsstufe nicht decken kann. In der inflationären Entwicklung der 70er Jahre wurde es Mode, die Ursachen für eigene Probleme im Ausland zu suchen. Dem wurde der Satz entgegengesetzt "Stability begins at home". Das gilt auch für den Globalisierungsprotest.

Fangen wir bei uns selbst an. Lösen wir unsere Probleme so, dass wir und andere damit leben können. Dazu brauchen wir Maßstäbe. Verantwortung für kommende Generationen heißt vor allem, für die nächste zu sorgen. Also Kinder, Erziehung, Familie. So entsteht Solidarität der Generationen.

Globale Verantwortung erfordert Einsicht in die wachsende gegenseitige Abhängigkeit von Milliarden Menschen. Das schafft Maßstäbe für unsere Erwartungen, Grenzen für Ansprüche und vor allem setzt es neue Ziele. Für zukunftgestaltende Reformen und für die europäische Einigung, die gelingen muss, wenn Europa vor den Herausforderungen der Globalisierung nicht versagen will.

Wolfgang Schäuble ist Präsidiumsmitglied

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