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Türkei: Marco W. und der „Midnight Express“

Ein deutscher Junge als Opfer orientalischer Willkür? Das ist ein Zerrbild.

Ein Sommertag an der Ostsee. Am Strand kommen sich der 17-jährige Metin aus Istanbul und die 13-jährige Schwedin Anita näher. Einen Tag später stellt Anitas Mutter bei der deutschen Polizei Strafanzeige gegen Metin wegen sexuellen Missbrauchs ihrer Tochter. Die deutsche Justiz findet, dass die Vorwürfe untersucht werden müssen, nimmt Metin in Gewahrsam und lehnt Forderungen der türkischen Regierung nach einer Haftentlassung des Schülers ab. Die deutsche Regierung sagt, sie mische sich nicht in die Entscheidungen der unabhängigen Justiz ein.

Würde es in einem solchen Fall in der deutschen Öffentlichkeit harsche Kritik an den Richtern geben? Wäre von einem „Terror überholter Moralvorstellungen“ die Rede? Müsste sich Deutschland den Vorwurf gefallen lassen, kulturell weit von Europa entfernt zu sein?

Wohl kaum. Die Aufregung rund um den Fall des in Antalya inhaftierten Uelzener Schülers Marco W. sagt mehr über das in Deutschland vorherrschende Türkeibild aus als über den Zustand des türkischen Rechtsstaates. Man kann – und soll! – darüber reden, ob es wirklich so lange dauern musste, bis der Prozess gegen Marco eröffnet wurde – zwischen seiner Verhaftung am 12. April und dem Prozessbeginn am 8. Juni lagen fast zwei Monate. Wenn Marco am 6. Juli erneut vor die Richter tritt, werden fast drei Monate vergangen sein. Wann das Urteil gefällt wird, steht noch nicht fest. Dass solche Verzögerungen bei türkischen Prozessen normal sind, macht die Lage für Marco nicht besser. Der Junge hat wahrlich Mitgefühl verdient. Aber zum „Terror“ wird seine Behandlung dadurch noch lange nicht.

Ein deutscher Junge als Opfer orientalischer Willkür und anatolischer Prüderie in einem finsteren Verlies – das ist das Bild, das gezeichnet wird. Die Szenen des Spielfilms „Midnight Express“ (1978), der schlimme Erlebnisse eines jungen Amerikaners in türkischen Gefängnissen schildert, bilden das Raster dafür. Politiker wie der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff beschreiben Marcos Schicksal als Zeichen großer kultureller Unterschiede zwischen der Türkei und Deutschland. Wenn überhaupt, offenbaren sich im Fall Marco W. aber höchstens kulturelle Unterschiede zwischen Briten und Deutschen. Verhängnisvoll für Marco war nämlich nicht ein altmodischer türkischer Sexualkodex, sondern die Anzeige einer britischen Urlauberin, die ihre 13-jährige Tochter Charlotte gefährdet sah. Marco hat zugegeben, intimen Kontakt zu Charlotte gehabt zu haben. In Deutschland gelten ähnliche Gesetze zur Ahndung von Unzucht mit Minderjährigen.

Auch auf türkischer Seite offenbaren sich alte Vorurteile. Politiker in Ankara erkennen in den Forderungen aus Berlin nach Freilassung des Schülers eine „Kolonialmentalität“, was sich nahtlos ins Weltbild türkischer Nationalisten einfügt: Danach ist das westliche Ausland ständig bestrebt, die Türkei zu erniedrigen wie einst nach dem Ersten Weltkrieg, als die Siegermächte das Land unter sich aufteilen wollten.

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