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Meinung: Über die Verhältnisse gelebt

Verdi und IG Metall übertönen ihre Schwächen durch laute Kraftmeierei

Joschka Fischer redet gegen den Saal, gegen die Delegierten der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die ihn als „Sozialverbrecher“ beschimpfen. Der Außenminister kämpft um Verständnis für Sozialreformen, Arbeitsmarktgesetze und Rentenkürzung. Ganz anders der Kanzler. Gerhard Schröder spulte vor einer Woche sein Programm vor dem Gewerkschaftstag der IG Metall ab. Cool und ungerührt: Er sei es gewohnt, keinen Beifall zu bekommen. Nie zuvor hat ein sozialdemokratischer Kanzler die Gewerkschaften derart links liegen gelassen.

So verschieden der Auftritt, so einheitlich die Botschaft der rot-grünen Regierung: Alle öffentlichen Kassen sind leer, fünf Millionen Arbeitslose haben bei der schlappen Konjunktur keine Chance, die Grenzen sind offen, das Kapital ist mobil. Die Verhältnisse lassen der Regierung keine Alternative zur Agenda 2010.

Frank Bsirske und Joschka Fischer sind Mitglieder der Grünen. Der Vizekanzler ist überzeugt vom Regierungskurs, weil er nur in dieser Richtung eine Zukunft sieht für noch immer solidarische Sozialsysteme. Der Verdi-Vorsitzende unterstellt dagegen der Regierung, mehr oder weniger bewusst die öffentlichen Kassen leer gewirtschaftet zu haben, um nun die Kürzung staatlicher Leistungen durchsetzen zu können. Da sich aber „nur die Reichen einen schwachen Staat leisten können“, sieht Bsirske eine enorme Umverteilung von unten nach oben. Der Reichtum Deutschlands ist von den Arbeitnehmern erwirtschaftet worden, aber verfrühstückt wird der Wohlstand von den ohnehin schon Wohlhabenden; und in den Sozialkassen und öffentlichen Haushalten soll der kleine Mann jetzt auch noch die Löcher stopfen. Das war der durchgängige Ton in der vergangenen Woche beim Gewerkschaftstag der IG Metall und in diesen Tagen beim Verdi-Bundeskongress. Doch anstatt kontrovers und konstruktiv über Globalisierung, finanzpolitische Spielräume und sozialpolitische Engpässe zu diskutieren, gebärdeten sich die Gewerkschafter auf die übliche Weise: Attacken gegen Politik und Kapital, alles in allem merkwürdig blutleere Kraftmeiereien aus einer anderen Zeit.

Die Regierungspolitik versucht in diesen Wochen mehr oder weniger überzeugend auf die Erkenntnis zu reagieren, dass wir viel zu viele Jahre über unsere Verhältnisse gelebt haben. Die Gewerkschaften setzen dagegen auf „Weiter so!“, mit mehr Schulden, einem staatlichen Investitionsprogramm und höheren Steuern für die Vermögenden. Das Wundersame dabei ist, dass es Verdi und die IG Metall überhaupt nicht irritiert, mit diesen Vorstellungen weit und breit allein zu stehen. Die eigene Schwäche wird dadurch aber nicht kleiner.

Denn auch die Gewerkschaften leben über ihre Verhältnisse. Erstens personell. Seit Jahren verlieren die DGB-Gewerkschaften Jahr für Jahr Hunderttausende Mitglieder; da die Macht der Gewerkschaften aber an der Zahl hängt, wie Bsirske zu Recht sagt, schrumpft ihre Macht beständig. Zweitens ideell. Noch zäher als die Parteien entwickeln sich die Gewerkschaften programmatisch weiter; in jedem Fall bleibt die Entwicklung hinter dem Tempo der weltwirtschaftlichen Veränderungen zurück. Drittens verbal. Ob Jürgen Peters oder Bsirske – die Spitzenfunktionäre nehmen den Mund noch immer so voll, als ob sie die Mehrheit der Arbeitnehmer vertreten würden. Doch nur ein Viertel der abhängig Beschäftigten zahlt Gewerkschaftsbeiträge; unter anderem deshalb, weil inzwischen auch viele Arbeitnehmer die Gewerkschaften in der Bremser- und Blockiererrolle sehen. Viertens tarifpolitisch: Die IG Metall hat in Ostdeutschland eine schwere Arbeitskampfniederlage erlitten, die noch lange nachwirkt. Verdi konnte zwar Anfang des Jahres für den öffentlichen Dienst einen hohen Abschluss rausholen, doch inzwischen fliegt die Tarifgemeinschaft von Bund, Ländern und Kommunen auseinander. Urlaubs- und Weihnachtsgeld der öffentlich Bediensteten stehen zur Disposition.

Alle vier Jahre treffen sich die Gewerkschaften zur ihren Kongressen, um eine neue Führung zu wählen und die Weichen für die nächste Zeit zu stellen. IG Metall und Verdi habe sich in diesem Herbst auf das Verprügeln der Regierung beschränkt und ihre programmatische und vor allem tarifpolitische Erneuerung vernachlässigt. Die nächste Chance kommt erst in vier Jahren. Wie viele Mitglieder wird es dann noch geben?

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