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Wohin führt der Weg der Ukraine?

© Reuters

Ukraine: Wie in einem schlechten Spiel

Musste sich der ukrainische Konflikt wirklich zu einer internationalen Blockkonfrontation auswachsen? Oder war nicht vielmehr der Druck äußerer Mächte der Auslöser für all das, was nun passiert ist? Ein Kommentar.

Gehen wir noch einmal zurück, ganz zum Anfang, zum ersten Dominostein. Ende November 2013 weigert sich der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben. Nicht einmal ein halbes Jahr, nachdem dieser erste Stein fiel, sind fast hundert Menschen auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz verblutet, hat die Ukraine einen Teil ihres Territoriums eingebüßt, scheinen die Spaltungen innerhalb des Restlandes so unüberbrückbar wie die Kluft zwischen Russland und dem Westen, steckt Europa in seiner schwersten Krise seit dem Mauerfall. Wie um Himmels willen konnte es so weit kommen?

Es kann keine simple Antwort geben auf diese Frage. Sicher aber ist es mehr als ein Anhaltspunkt, dass sich die ukrainische Krise derzeit wieder ihrem Ausgangspunkt nähert. Nachdem die Maidan-Revolutionäre über Monate hinweg die bedingungslose und sofortige Unterzeichnung des EU-Abkommens forderten, hat nun der neue ukrainische Premier Arseni Jazenjuk erklärt, den wirtschaftlichen Teil des Vertrags erst einmal aufschieben zu wollen – aus Angst vor negativen Folgen für die östlichen Industrieregionen des Landes, deren Wirtschaft eng mit Russland verflochten ist. Zur Erinnerung: Mit exakt derselben Begründung hatte auch Janukowitsch seine Unterschrift verweigert.

Die internen Querelen, die die Ukraine prägen, kenne viele Föderalstaaten

Im Unterschied zur damaligen Konfrontation signalisiert die EU nun die Bereitschaft, zunächst nur den politischen Teil des Abkommens umzusetzen, unter Ausklammerung der Wirtschaftsaspekte. Spät, viel zu spät, scheint in Brüssel und im Kiewer Revolutionslager die Erkenntnis zu reifen, dass ein Westkurs des Landes nicht unter Missachtung ostukrainischer Interessen durchgesetzt werden kann. Wie viel Leid hätte vermieden werden können, wenn diese Einsicht früher zu einer Einigung geführt hätte?

Zumal vor dem Beginn der Auseinandersetzungen weder die wirtschaftlichen noch die weltanschaulichen Konflikte innerhalb der Ukraine so groß waren, dass sie zwangsläufig zum Bruch hätten führen müssen – auch wenn das nun östlich wie westlich der Landesgrenzen gerne behauptet wird. Die internen Querelen, die die Ukraine prägen, kennt letztlich so mancher Föderalstaat: Mehrsprachigkeit (innerhalb derselben Sprachgruppe), unterschiedliche Glaubensrichtungen (innerhalb derselben Religion), verschiedene Nationalzugehörigkeiten (innerhalb derselben Ethnie), unterschiedliche Vektoren in der Außenwirtschaft und -politik, ein in Details differierendes Geschichtsverständnis. Viele Staaten leben sehr gut mit solchen Differenzen, ohne je in die Nähe bürgerkriegsähnlicher Verhältnisse zu geraten.

Musste sich also der ukrainische Konflikt wirklich zu einer internationalen Blockkonfrontation auswachsen? Oder war es vielmehr von Anfang an der Druck äußerer Mächte, der in der Ukraine einen Dominostein nach dem anderen umstürzen ließ? Nicht nur wirtschaftlich sah sich das Land durch das EU-Abkommen in seiner damaligen Form mit einer Entweder-oder-Entscheidung konfrontiert, von der man hätte wissen können, dass sie die Ukraine vor eine Zerreißprobe stellen würde. Auch politisch, sogar weltanschaulich lag plötzlich die von außen an die Ukraine herangetragene Forderung in der Luft, die Interessen des einen Landesteils denen des anderen unterzuordnen – mit den bekannten, tragischen Konsequenzen.

Dass sich Russland in diesem schlechten Spiel durch großen propagandistischen Zynismus hervorgetan hat, sollte den Westen nicht davon abhalten, auch die eigenen Fehler zu sehen. Allzu selbstverständlich wurden auch hierzulande in den letzten Monaten die landesinternen Differenzen in der Ukraine als Vorwand für äußere Parteinahme missbraucht, in der Politik wie in den Medien. Kommentatoren, die den Dnjepr nie aus der Nähe gesehen hatten, erklärten den Fluss vollmundig zur quasi gottgegebenen Kulturscheide, an deren östlichem Ufer ein unheilbarer Hang zum Despotismus herrsche, weshalb man die dortigen Anrainer politisch getrost übergehen könne.

Es ist ein Denkfehler, den wir nicht wiederholen sollten.

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