zum Hauptinhalt

Meinung: Unsere Bedingung

Die Türkei muss sich endlich ihrer Geschichte stellen / Von Alfred Grosser

Vor einigen Jahren habe ich in Ankara über Europa gesprochen. Der französische Botschafter bat mich inständig darum, in meiner Rede „nur zwei kleine Worte zu vermeiden: Armenier und Kurden“. Ich bin seiner Bitte nachgekommen, habe aber meinem türkischen Publikum erklärt: „Die Europäische Gemeinschaft bildet ein Ganzes, innerhalb dessen jeder das Recht hat, über Verbrechen von anderen zu sprechen und jeder die Pflicht hat, über seine eigenen zu reden.“ Hier kann man zu Recht auf Deutschland verweisen. Die Bürden der Vergangenheit implizieren in keiner Weise eine Schuld in der Gegenwart. Die Gegenwart ist vielmehr geläutert durch die Anerkennung vergangener Grausamkeiten, die in einer anderen Zeit durch ein anderes Regime begangen wurden.

Doch die türkischen Machthaber von heute beharren darauf, die historische Realität zu leugnen, die doch akribisch und vermutlich unwiderlegbar in dem detaillierten Werk von Raymond Kévorkian „Le genocide des Armenien“ dargelegt wird. Die Lektüre des Buches zeigt, warum die Anerkennung der vergangenen Verbrechen so schwierig ist für die politische Elite der Türkei: Der Aufbau der türkischen Nation war unmittelbar mit dieser „ethnischen Säuberung“ verbunden, so wie es bei vielen anderen „Säuberungen“ der Fall war.

Geht es nach dem französischen Präsidenten Jacques Chirac, muss die Türkei vor einem EU-Beitritt eine zentrale Bedingung erfüllen: Die Anerkennung des Genozids an den Armeniern 1915/1916. Auch das französische Parlament setzt sich heute mit dieser Frage auseinander – und damit, ob die Leugnung des Völkermords in Frankreich zukünftig strafbar sein soll. Die Türkei lehnt das ab und argumentiert, Chirac sei ohnehin gegen den Beitritt der Türkei zur EU, das Gesetz diene nur als Vorwand. Dessen ungeachtet gilt es, über die Forderung nachzudenken.

Schon vor fünf Jahren, am 29. Januar 2001, trat in Frankreich ein Gesetz mit einem einzigen Artikel in Kraft: „Frankreich erkennt öffentlich den armenischen Genozid von 1915 an. Dieses Gesetz wird als staatliches Gesetz angewandt.“ Die Bedeutung des Textes blieb rätselhaft. Dabei war dessen Sinn eigentlich klar. Das „Gesetz Gayssot“ aus dem Jahr 1990, das die Leugnung der Schoah unter Strafe stellt, betraf nur die Verbrechen Hitlers. Es bedurfte also einer Erweiterung.

Nunmehr wird der Türkei selbst die Anerkennung des Völkermordes abverlangt. Zu Recht? Auf den ersten Blick mag das bizarr anmuten. Wenn Jacques Chirac seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin oder chinesischen Machthabern begegnet, dann spricht er mit ihnen nicht über die schrecklichen Verbrechen, die Stalin oder Mao begingen. Die Millionen Toten in den Gulags, ganze Völker, die deportiert wurden, die Abermillionen Opfer des „Großen Sprungs nach vorne“ und der chinesischen Kulturrevolution – deren Erwähnung kann man in Moskau und Peking verbieten, ohne dass westliche Machthaber oder die große Mehrheit unserer Intellektuellen davon berührt wären. Die französisch-deutschen Geschichtsbücher nehmen diese Schrecken auf die leichte Schulter. Warum also die Türkei? Die Antwort ist einfach: Weil Russland und China keine Kandidaten zur Aufnahme in die Europäische Union sind.

Wenn man die behaupteten europäischen Werte ernst nimmt, dann muss das Verhältnis zur Vergangenheit offen und ehrlich sein. Wenn der Papst in seiner theologischen Regensburger Lektion gesagt hätte, dass die Kirche jahrhundertelang auf Gewalt zurückgriff und dass deren Verurteilung erst auf die Erklärung zur religiösen Freiheit zurückgeht, die das zweite Vatikanische Konzil 1965 annahm, dann hätte er viel einfacher die Gewalt beklagen können, die immer noch im Namen des Islams angewandt wird.

Der kritische Blick auf die Vergangenheit einer Gemeinschaft erhebt sie moralisch. Die Türkei lehnt nicht als Einzige diese Feststellung ab, doch sie ist das einzige große Land, das um Aufnahme in die Europäische Union bittet. Die EU sollte deshalb ihrerseits anerkennen, dass sie mindestens so sehr auf eine Moral gegründet ist wie auf ökonomische Vorteile.

Aus dem Französischen übersetzt von Ralf Schönball.

-

Zur Startseite