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Unterhaltung: Warum Deutschland Stefan Raab braucht

Stefan Raab ist jetzt schon einer der Gewinner des Eurovision Song Contests, meint Times-Korrespondent Roger Boyes. Wie kann es eigentlich sein, dass er eine so zentrale Figur der deutschen Unterhaltungskultur geworden ist?

And the winner is … Na, ja. Dieses Mal wird es nicht Lena, da können wir ziemlich sicher sein. Es wird aber auch keiner der üblichen Bum-Bum-Tschaka-Tschaka-Dadums. Das Publikum des European Song Contest ist anspruchsvoller geworden und will jetzt Erwachsenentexte statt Babysprache. Der Gewinner wird ein anderer sein, Stefan Raab nämlich, der gelernte Metzger mit dem Pferdegrinsen. Schon wieder.

Wie kann es eigentlich sein, dass er eine so zentrale Figur der deutschen Unterhaltungskultur geworden ist? Vier Mal die Woche TV Total, ein riesiges Publikum bei der Wettkampfsendung „Schlag den Raab“, die sechs Mal im Jahr durch den Samstagabend kullert, dazu die Wok-WM. Dank Stefan Raab sieht man chinesische Kochpfannen jetzt in erster Linie als einen super Untersatz für dickliche Männerhintern, die Berge herunterrutschen. Und der Song-Contest, dieses jährliche Kitschfest, ist erträglich geworden – ebenfalls dank Raab.

Heute wird er vor einer Düsseldorfer Großleinwand stehen, die breit genug ist, um das Ego von so manchem Sowjet-Diktator oder Nahost-Potentaten zu befriedigen, und der Rest von Europa (ein Europa, das so weit definiert wird, dass auch Israel und Aserbaidschan dazu gehören) bekommt den Super-Raab kredenzt. Wie wird dieses Europa ihn wahrnehmen? Die meisten kennen ja noch nicht einmal die halbe Wahrheit: dass er Lena erschaffen hat wie Frankenstein sein Monster erschaffen hat. Dass er sie ausgewählt hat, sie trainiert hat, ihre Songs geschrieben und produziert hat und dann Deutschland ohne eine nennenswerte öffentliche Debatte davon überzeugt hat, dass die Gewinnerin von 2010 – seine Gewinnerin – auch 2011 wieder ins Rennen gehen muss.

Stefan Raab ist der Zirkusdirektor der Nation. Und was sind wir? Wir sind seine dressierten Seerobben, wir balancieren in der Manege bunte Bälle auf unseren Nasen und hoffen auf einen Hering als Belohnung. Stefan Raab hat eine außergewöhnliche unternehmerische Energie und keinen Sinn für Grenzen. Klar, es gibt auch noch andere Leute im deutschen Fernsehen. Aber Harald Schmidt bleibt in der Late-Night-Nische: Wenn man aus Versehen auf dem Sofa einnickt, verpasst man ihn. Günther Jauch wildert jenseits seiner Rolle als Quiz-Moderator, aber man hat nicht das Gefühl, dass er das aus nacktem Ehrgeiz macht oder weil er den Charakter des deutschen Fernsehens verändern möchte. Er will einfach nur mal wieder sein Hirn ein bisschen einschalten müssen, nachdem er jahrelang Fragen vorgelesen hat, die sich jemand anders ausgedacht hat. Raab hingegen hat etwas Gefährliches, er will die ganze Welt auf den Kopf stellen. Bei „Schlag den Raab“ steigt er so aggressiv in Wettbewerbe ein, dass sein Kopf zu platzen droht, wenn er einmal einen Punkt an einen cleveren Fahrlehrer verliert.

Man muss nicht Einstein sein um zu verstehen, dass ein Publikum, das über ein halbes Jahrhundert jedes Wochenende Volksmusik serviert bekam, bereit ist für den Wandel. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen ist seine eigene Zeitgeschichte in der Dose. Schalten Sie einfach mal den Tatort ein. Oder den Internationalen Frühschoppen. Wenn Gustav Heinemann wieder lebendig würde (und manchmal wünschte ich, es wäre so), würde er sich im Fernsehen zu Hause fühlen. Vermissen würde er wahrscheinlich nur Rudi Carrell.

Raab lebt davon, dass er es schafft, die Illusion vom 70er- Jahre Klugscheißer-Stadtkind aufrechtzuerhalten: schnoddrig, respektlos, schamlos, einer, der vorankommen will im Leben. Kein echtes Talent, aber musikbegeistert. Kein echter Sportler, aber Sportenthusiast. Er wurde 1966 geboren, das ist im Moment vielleicht die interessanteste und produktivste Generation in Deutschland. MTV und Viva haben ihr die Augen geöffnet. Zur Generation der Youtuber, Facebooker und Twitterer hat er eine Brücke geschlagen: das Fernsehen.

Inzwischen ist er reich geworden und hat dadurch an Charme verloren. Das passiert jedem. Seine Kantigkeit und seine Ironie sind abgeschliffen und im Ton vergreift er sich oft. Vor ein paar Jahren war ich in seiner Sendung, um ein Buch vorzustellen. Raab hatte es nicht gelesen, er hatte nicht einmal hineingeschaut. Ich war froh, dass er es richtig herum hielt. Trotzdem gingen die Amazon-Verkaufszahlen am nächsten Tag um zehn Prozent nach oben. So läuft das bei ihm.

Das miserable musikalische Niveau des European Song Contest hat er mit links angehoben. Nach dem heutigen Samstag wird er weiterziehen, etwas anderes tun, Geld verdienen und wieder etwas anderes tun. Der Mann ist hochgradig ärgerlich. Aber Deutschland braucht ihn.

Aus dem Englischen übersetzt von Anna Sauerbrey.

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