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"Convince me!" Im US-Wahlkampf gehen die Meinungen weit auseinander.

© Reuters

US-Wahlkampf: Spalten statt versöhnen

Vor jeder US-Präsidentschaftswahl wird das Klagelied eines gespaltenen Landes angestimmt, in das ein jeder einstimmt - auch Malte Lehming. Doch wer das Gegenteil erlebt hat, wünscht sich auch das nicht zurück.

Das Klagelied klingt so: Amerika ist gespalten, der Kongress blockiert, Liberale und Konservative hassen sich, sie misstrauen einander, der Ton der politischen Debatten ist aggressiv bis feindselig, in den Medien wird jede Nebensache skandalisiert und personalisiert. Aus diesem Klagelied hört man die Sehnsucht nach einer anderen Zeit heraus.

Ja, es stimmt, es gab einmal ein anderes Amerika, eines das geeint war, in dem die Menschen respektvoll miteinander umgingen, sich füreinander aufopferten, den Gemeinsinn beschworen, Toleranz predigten. Es war ein Land, auf das viele stolz waren.

Das war vor fast genau elf Jahren. Es begann am Abend des 12. September 2001. Auf den Treppen vor dem Ostflügel des Kapitols versammelten sich Dutzende von Kongressabgeordneten. Sie nahmen sich an die Hand, Republikaner und Demokraten, Senatoren und Repräsentanten. Dann sangen sie, erst leise, dann langsam lauter „God Bless America“. Zum Schluss umarmten sie sich, spendeten einander Trost. Am selben Tag standen Tausende von Menschen überall im Land stundenlang an, um Blut zu spenden. In New York sagte Bürgermeister Rudy Giuliani: „Wir haben inzwischen mehr freiwillige Helfer, als wir einsetzen können.“

Kurze Zeit später besuchte Präsident George W. Bush das Islamische Zentrum in Washington DC und sagte: „Das Gesicht des Terrors ist nicht das wahre Gesicht des Islam. Der Islam ist eine friedliche Religion. Wir kämpfen nicht gegen den Islam.“

So war es damals vor elf Jahren in Amerika. In Dallas hält ein Busfahrer plötzlich an und bittet die Passagiere, mit ihm zu beten. In Los Angeles verteilen Menschen des Nachts brennende Kerzen an Autofahrer. Auf den Stufen des Lincoln Memorials in Washington DC stehen mehr als 1000 Menschen und halten Kerzen. Auf dem Marktplatz von Alexandria findet im strömenden Regen ein Freiluftgottesdienst statt. Die ersten Gebete spricht ein islamischer Geistlicher.

War das nicht eine gute Zeit verglichen mit heute, da Wut, Misstrauen, Verachtung und Polarisierung herrschen und sich der Kongress noch nicht einmal auf einen Haushalt verständigen kann?

Die Sehnsucht nach dieser Zeit ist verständlich, aber sie hatte eine Kehrseite. Einen Vorgeschmack darauf gab ausgerechnet sechs Wochen später, am 20. Oktober 2001, das von Paul McCartney organisierte „Concert for New York City“ im Madison Square Garden. Es war als Benefizkonzert gedacht für die Opfer der Anschläge. Doch als der Schauspieler Richard Gere über gewaltfreie Toleranz als dem Gebot der Stunde sprach, wurde er ausgebuht. Seine Antwort: „That’s apparently unpopular right now, but that’s all right.” (Diese Ansicht ist derzeit offenbar unpopulär, aber das geht in Ordnung.)

Patriot Act, Guantanamo, Afghanistan, Iraq: Wer auch immer in den folgenden Monaten die Rationalität dieser Antworten auf die Terroranschläge in Frage stellte oder gar kritisierte, stellte sich außerhalb des gesamtgesellschaftlichen Konsenses. Er wirkte unpatriotisch. Wut und Trauer brauchten ein Ventil. Zusammen singen kann eben auch heißen, zusammen Krieg führen: Das war der Geist, der den Kongress umwehte.

Einigkeit macht stark, manchmal zu stark. Sie macht mutig, manchmal übermütig.

Das Klagelied über das gespaltene Amerika ist berechtigt, doch vorbehaltlos in es einzustimmen, fällt schwer. Denn wer das Gegenteil eines gespaltenen Amerikas erlebt hat, wünscht sich auch das nicht zurück.

Dieser Artikel wurde bei National Interest erstveröffentlicht. Lesen Sie hier das englischsprachige Original.

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