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USA: Amerika wählt Personen, keine Programme

Amerikanische Politiker schieben ihre frisch geduschten Kinder auf die Bühne und rufen Hurra. Sie prahlen dreist mit ihrem Leben. Bei den Parteitagen hat sich gezeigt, dass McCain dem "Change" Obamas eine starke eigene Erzählung entgegenhalten kann. Wer wirkt am Ende authentischer?

Die Vorstellung, dass Frank-Walter Steinmeier mit seinem behinderten Kind im Arm auf der Bühne steht, seine schwangere minderjährige Tochter hinter ihm und die SPD-Delegierten ihn tosend als Kanzlerkandidaten feiern, ist abenteuerlich. Politik in Deutschland funktioniert so nicht. Amerikanische Politiker schieben ihre frisch geduschten Kinder auf die Bühne und rufen Hurra. Sie entblößen sich, sie breiten ihr Leben aus und prahlen dann dreist damit. Es gilt in Deutschland als unfein, oberflächlich und indiskret, was die Amerikaner Politik nennen, als eine billige Show; dass wir nicht wissen, ob Steinmeier überhaupt Kinder hat, gilt dagegen als Ausdruck politischer Reife.

Amerika wählt Personen und keine Programme, das ist nichts Neues: Das Land ist zu groß, zu ungleich, um durch starke Parteien und deren Inhalte zusammengehalten zu werden; die Rolle des Präsidenten ist zu stark, zu hervorgehoben, um von schwachen Persönlichkeiten ausgeübt zu werden. Dazu das Bildhafte der amerikanischen Politik, die Aufbereitung des Politischen für eine Fernsehnation: Was dann im Mittelpunkt steht, ist vor allem Lebensgeschichte und Privates. Bill Clinton hat den Wählern seine eigene Aufsteigergeschichte als amerikanische Vision verkauft, und auch George W. Bush hat sich als authentischer Ex-Alkoholiker erfolgreicher verkauft als ein durch und durch identitätsloser Al Gore.

Das ist nicht nur Populismus. Politik ist schon immer Erzählung: Ohne seine Gallien-Memoiren hätte Julius Caesar niemals in Rom Karriere gemacht. Barack Obama hat mit 47 Jahren bereits in zwei Autobiografien seine res gestae, sein Leben und seine Taten, geschildert. Und auch John McCain wäre ohne die Geschichte seines Lebens nicht dort, wo er heute ist. Immer wieder kam er in seiner Rede auf dem Parteitag darauf zurück, dass er fünfeinhalb Jahre im „Hanoi Hilton“ in nordvietnamesischer Kriegsgefangenschaft verbracht hat.

Angela Merkel hat fast vierzig Jahre im „Honecker Hilton“ verbracht, doch was das aus ihr gemacht hat, weiß noch immer keiner. Statt darüber zu reden, statt daraus die politische Erzählung ihres Lebens zu formen, arbeitet sie lieber den Koalitionsvertrag ab. Der deutsche Wähler kennte sie besser, wenn sie sich auch einmal so unerbittlich dem Wähler und den Fernsehkameras gestellt hätte, wie es Obama und McCain in den vergangenen Monaten getan haben. Deutschland wählt Parteiprogramme, doch die sind, wie man sieht, schnell geändert; die Persönlichkeit bleibt.

Die amerikanischen Nominierungsparteitage sind Veranstaltungen, die man am ehesten rezensieren kann wie ein Theaterstück oder einen Roman. Sie sind Inszenierungen der unterschiedlichen politischen Narrative. Sie sind so in gewisser Weise ein Authentizitätstest: Funktioniert meine Erzählung? Dass McCain seine Vietnamerfahrung zunehmend in den Mittelpunkt seines Wahlkampfes rückt, ist weniger eine inhaltliche Festlegung auf den Soldaten und Patrioten: Sie ist der Rückzug auf eine Rolle, die McCain am glaubwürdigsten ausfüllt.

In einem Wahlkampf, in dem weder die eine noch die andere Seite mit Regierungserfahrung punkten kann, in dem beide Seiten einigermaßen glaubwürdig vermitteln können, dass sie politische Außenseiter sind, wird es schließlich darauf ankommen, wer von den beiden authentischer wirkt und wer eine überzeugendere Lebensgeschichte vorzuweisen hat. Anders als in Deutschland, wo Politiker gewählt werden, die keine Reden halten können und auch nach Jahren im Amt noch ein Enigma sind, ist die Währung im amerikanischen Wahlkampf Authentizität. Dass sogar ein George W. Bush wiedergewählt wurde, zum erstaunten Entsetzen der Europäer, sollte deshalb vor allem dem Neuling Barack Obama eine Warnung sein: Bush wurde im Amt bestätigt, weil er trotz des Irakfiaskos noch immer authentischer wirkte als sein demokratischer Gegner. „Lieber den Teufel, den man kennt“, heißt das amerikanische Sprichwort dazu.

Amerika wählt Personen und keine Programme. Und möglicherweise hat John McCain eine authentischere Lebensgeschichte als Barack Obama.

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