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Kein Fairness-Gebot setzt Plausibilitäten und Wahrscheinlichkeitsrechnungen außer Kraft: Auch im Fall Dominique Strauss-Kahn spielen Vorurteile eine Rolle.

© dpa

Kontrapunkt: Venceremos! Es lebe das Vorurteil!

Man soll nicht vorschnell urteilen, heißt es oft, wenn über Rassismus, Dominique Strauss-Kahn oder die SPD geredet wird. Malte Lehming meint, Vorurteilsfreiheit ist ein Ideal, das den sicheren Tod bedeuten würde.

Manchmal ist auf Anhieb nicht ganz klar, worauf ein Kommentator hinaus will. Das muss kein Nachteil sein. Etwas Unklarheit erhöht die Spannung. Versuchen wir es.

Einige brisante Themen sind jedenfalls vor der Sommerpause noch unterbelichtet. So erreicht der lange Marsch durch die Institutionen, den die 68er antraten, um ihn als Horrortrip durch die Frustrationen zu beenden, demnächst die Altenheime. Die Pflegeexperten stellen sich auf die neue Klientel bereits ein. Im Vergleich zur Kriegsgeneration, sagt der Geschäftsführer des Kuratoriums Deutsche Altershilfe (KDA), Peter Michell-Auli, würden die 68er „ihr Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe vehementer einfordern“. Das heißt: stadtteilbezogene Unterbringung, eigene Kochgelegenheit, größere Wohnküchen. Venceremos!

Auch, dass die Nato angeblich radioaktive Uranmunition in Libyen verwendet, wurde eher am Rande vermerkt. Der Vorwurf stammt von der internationalen Ärzte-Organisation (IPPNW), die sich auf Untersuchungen von Wissenschaftlern des kanadischen „Centre for Research on Globalization“ beruft. Langfristige schwerwiegende Gesundheitsschädigungen seien die Folge. Beim „bösen“ Irakkrieg wurden solche Hinweise reflexartig sehr ernst genommen, beim „guten“ Libyenkrieg werden zwei Augen zugedrückt. Venceremos!

Oder die SPD. – Wer? - Die SPD! – Was ist das denn? – Eine deutsche Oppositionspartei. – Gibt’s die schon lange? – Ja, ziemlich lange. Ihr Chef heißt Sigmar Gabriel. – Kenn’ ich nicht. Gibt’s den auch schon lange? – Ja, ziemlich lange, jedenfalls für SPD-Verhältnisse. Aber er und seine Partei leiden fast noch länger unter einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Keiner spricht über sie. Keiner nimmt sie wahr, geschweige denn ernst. Deshalb setzen sie jetzt ihre Resthoffnung auf das Sommerloch. – Füllt das denn nicht die Regierung mit ihren Steuersenkungsplänen? – Eben das will Gabriel mit aller Macht verhindern. – Was? Er will verhindern, dass die Regierung durch den Wolf gedreht wird? – Ja, weil dann wieder keiner über die SPD spricht. Gabriel setzt jetzt voll auf eine SPD-Kanzlerkandidatdiskussion. – Schadet er damit nicht sich selbst und seiner Partei? – Ist ihm egal, Hauptsache, die SPD wird nicht länger ignoriert. Zur Not käme ihm sogar ein kleiner Skandal um die „Küsten-Barbie“, Manuela Schwesig, ganz gelegen. Venceremos!

Und schließlich die Deutschen und ihre Kultur. Bei Büchern und Filmen sind wir international ja ein wenig ins Hintertreffen geraten, aber in der Backkunst macht uns keiner etwas vor. Da schlagen wir jeden, selbst die Japaner. Deshalb will Verbraucherministerin Ilse Aigner das deutsche Brot als Weltkulturerbe schützen lassen. Kein Witz! „Brot aus Deutschland ist einmalig in seiner Vielfalt und Qualität“, sagt sie. Gemeinsam mit der Unesco soll demnächst ein Brotregister über die regionale Vielfalt von Brotsorten erstellt werden. Venceremos!

Diese vier Beispiele haben etwas gemeinsam. Die Pointe versteht nur, wer zumindest rudimentäre Vorurteile hat – gegen die 68er, die Doppelmoral der Linken, die SPD, deutschtümelnde  Schwarzbrotkunst. Denn das Hauptthema heute sind Vorurteile. Es gibt viel zu viele Vorurteile gegen Vorurteile. Sie seien schlecht, heißt es, primitiv, abwertend, diskriminierend, bösartig und dumm. Dabei brauchen wir Vorurteile. Ohne Vorurteile keine Erkenntnis. Ohne Vorurteile keine Orientierung.

Nehmen wir einen dunkelhäutigen jungen Mann, der abends alleine durch eine Kleinstadt in Brandenburg geht und auf eine Gruppe angetrunkener Skinheads trifft, die einen Baseballschläger schwingen. Würde man diesem Dunkelhäutigen empfehlen, möglichst vorurteilsfrei zu sein (nicht alle angetrunkenen Skinheads in Ostdeutschland neigen zur Gewalt gegenüber Ausländern!), liefe er wahrscheinlich in sein Verderben.

Auch ein kahlgeschorener weißhäutiger Mann, der mit einem Thor-Steinar-T-Shirt durch Kreuzberg geht, sollte sein Bedrohungspotenzial aufgrund fehlender Vorurteile gegen gewaltbereite Linke nicht zu niedrig ansetzen. Und würde Dominique Strauss-Kahn (DSK) endgültig freigelassen und eine junge Kollegin dürfte ihn interviewen, wäre der vorurteilsbehaftete Rat an sie, zum Interview nicht alleine zu gehen, durchaus angemessen.

Vorurteile in ihrer nicht tradierten, nicht diskriminierenden Form sind vor allem eins: lebensnotwendig. In seinem Essay „Über das Vorurteil“ schreibt Max Horkheimer: „Im Dschungel der Zivilisation reichen angeborene Instinkte noch weniger aus als im Urwald. Ohne die Maschinerie der Vorurteile könnte einer nicht über die Straße gehen, geschweige denn einen Kunden bedienen.“

Vorurteile im Sinne einer Vormeinung sind Alltagsbewältigungsthesen, die an der Wirklichkeit überprüft werden müssen. Wer sich fünf Mal auf die sprichwörtliche Pünktlichkeit der Deutschen Bahn verlässt und fünf Mal enttäuscht wird, tut gut daran, sich beim sechsten Mal zu vergewissern. Wer nur kluge „Kevins“ kennt, wird nicht verstehen, warum andere den Namen für eine Diagnose halten.

Wohlgemerkt: Es geht um Vorurteile, nicht Vorverurteilung. Das Urteil über DSK spricht ein Richter oder eine Jury. Aber dass aus den ersten Informationen über den Fall – reicher, mächtiger Mann mit entsprechender Vorgeschichte vs. unbescholtenes armes Zimmermädchen – recht schnell eine Täter-Opfer-These wurde, ist verständlich. Kein Fairness-Gebot setzt Plausibilitäten und Wahrscheinlichkeitsrechnungen außer Kraft. Das Ideal kompletter Vorurteilsfreiheit wäre gleichbedeutend mit der Abschaffung des „common sense“. Im Alltagsleben würde es den sicheren Tod bedeuten.

Ob Skins, die Deutsche Bahn, ob SPD oder DSK: Es lebe das Vorurteil! Venceremos!

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