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FDP-Chef Guido Westerwelle.

© AFP

Verfolgte Unschuld: In der Opferpose

Die Rolle der verfolgten Unschuld ist verführerisch. Die Man-wird-doch-wohl-mal-sagen-dürfen-Attitüde brachte der FDP bei der letzten Wahl stolze 14,8 Prozent. Doch Guido Westerwelle ist nicht in der Position, sich an die Opferrolle zu klammern.

Aus der Bibel und der Theologiegeschichte ist er unter den Namen Noah, Moses, Jesus und Martin Luther bekannt. Wer’s lieber wissenschaftlich will, erkennt ihn in Galileo, Kopernikus, Darwin und Freud. Alle diese Personen haben einen Topos geschaffen, der sehr positiv besetzt ist und sich tief in unsere gesellschaftliche Psyche eingebrannt hat: allein gegen alle, machtlos, im Besitz einer Wahrheit, im Namen etwas Größeren zu Entbehrungen bereit, ja zum Leiden und zum Tod. Die begriffliche Kurzform für diesen Topos heißt „verfolgte Unschuld“.

Auch wenn die Analogie viel zu hoch gegriffen ist, beruht ein beliebter politischer Trick der Neuzeit darauf, in ebendiese Rolle einer verfolgten Unschuld hineinzuschlüpfen. Ich, das Opfer, umzingelt von Feinden, machtlos, das Wort als einzige Waffe. Wer das schafft, der hat es geschafft. Denn er hat sich gegen Kritik autoimmunisiert, weil ja jede Kritik als Beleg für die Verfolgungsthese gewertet werden kann. Je härter die Attacke, desto gefestigter der Nimbus. Die verfolgte Unschuld umgibt ein geschlossenes System.

Das vorletzte Beispiel dieser Art war Thilo Sarrazin, das letzte ist seine Frau Ursula. Die schnelle und zunächst einhellige Empörung über das Buch des ehemaligen Berliner Finanzsenators erlaubte es Sarrazin, von der Anprangerer- und Verfolgerrolle in diejenige des Verteidigers des Rechts auf Meinungsfreiheit zu schlüpfen. Für ihn war das eine ideale Metamorphose. Sie machte den Inhalt seines Buches zur Neben-, sein Schicksal indes zur Hauptsache. Wer sich ab diesem Moment noch in sein Buch verbiss, diskutierte automatisch an der Sache vorbei.

Ähnlich ist es mit seiner Frau. Das Narrativ der Berliner Lehrerin heißt: Ich bin nur etwas strenger und konsequenter als andere, doch weil mich meine Gegner in Sippenhaft für meinen Mann nehmen, werde ich gnadenlos gemobbt. Auch an diesem Konstrukt prallt Wirklichkeit ab. Ob schrille Töne oder unverhältnismäßige Härte – kein Einwand trifft, weil sich das Ziel durch den Anspruch, in einer Verfolgtengeschichte zu stehen, eingepanzert hat.

Neu ist dieser Trick nicht. Als Daniel Jonah Goldhagen sein Buch über die „willigen Vollstrecker“ publizierte und früh den Eindruck erweckte, die Deutschen hätten Hitler gewissermaßen genealogisch an die Macht gebracht, gelang es ihm ebenfalls, eine Kollektiverregung zu erzeugen: Plötzlich stand er, der junge, amerikanische Jude, in fast singulärer Opposition zum „germanischen Volkskörper“, der die Wahrheit über sich nicht erträgt. Als Goldhagen dann zu Lesungen und Diskussionen nach Deutschland kam, löste sich das als eine Art Missverständnis auf.

Einer freilich ist an solchem Erfolgskalkül gescheitert, Guido Westerwelle. Elf Jahre lang präsentierte er sich als verfolgte Unschuld – in der Opposition gegen eine dunkel- bis hellrot angestrichene Mehrheit: der Einzige, der Freiheiten verteidigt, liberale Grundsätze hat und Steuersenkungen proklamiert. Die Man-wird-doch-wohl-mal-sagen-dürfen-Attitüde brachte seiner Partei bei der letzten Wahl stolze 14,8 Prozent. Westerwelle bedachte jedoch nicht, dass der Topos nur so lange funktioniert, wie die verfolgte Unschuld wirklich nur das Wort und keine Macht hat. Wer regiert, kann kein Opfer (mehr) sein – oder er macht sich lächerlich.

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