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Tempo 30 in ganz Berlin könnte die Stadt sicherer und lebenswerter machen.

© Kitty Kleist-Heinrich

Verkehrsdebatte: Tempo 30 für ganz Berlin: Nehmt Fahrt raus!

Nervige Aggro-Radler auf Berliner Straßen! Nervige Bevorzugung des Autos bei der Stadtentwicklung! Verkehrsprobleme gibt es viele - mit flächendeckenden Tempo-30-Zonen ließen sie sich lösen.

Von Markus Hesselmann

Wer vom Auto reden will, darf vom Fahrrad nicht schweigen. Kaum ein Thema regt unsere Leserinnen und Leser mehr auf und an als der Alltagskonflikt auf zwei oder vier Rädern. Das zeigen die Klick- und Kommentarzahlen auf unserer Online-Seite, wenn wir einen Text zum Thema veröffentlichen. Als hier an dieser Stelle kürzlich der wunderbare Rant – so nennt man im Internet einen sehr subjektiven, zugespitzten, oft erfahrungsgesättigten Kommentar – des Kollegen Ralf Nestler über Aggro-Radler erschien, gab es 200 Kommentare. Viele davon verwiesen im Gegenzug auf das aggressive Verhalten vieler Autofahrer – bis hin zu der Einlassung, dass solange die gesamte Stadtentwicklung auf die Bedürfnisse der Autofahrer ausgelegt sei, es zwingend zum Radfahrer-Ethos gehöre, sich nicht an Regeln zu halten, die aus dem Geiste dieser Fehlplanungen geboren wurden.

Das Dilemma ist: Nestler hat recht – und die meisten der Leserinnen und Leser, die das Autofahrer-Unwesen und das Primat des Kraftfahrzeugs aus Radler-Sicht kritisieren, haben es irgendwie auch. Das Hauptproblem dabei liegt meiner Ansicht und täglichen Erfahrung nach in der Geschwindigkeit, und damit naturgemäß zuallererst beim Auto. Ich beeile mich hier einzufügen, dass ich selbst gern Auto fahre, keinesfalls zu den Anhängern der Ökodiktatur gehöre und als bekennender, wenn auch parteienferner Liberaler jede Form von Überregulierung aus Prinzip ablehne. Aber Chancengleichheit ist auch ein wichtiges liberales Prinzip. Darwinismus jedenfalls hat mit Liberalismus nichts zu tun. Und unser Straßenverkehr ist in weiten Teilen darwinistisch strukturiert. Das Recht des Stärkeren herrscht. Sein Ausdrucksmittel ist die Geschwindigkeit, die Handlungs- und Bewegungsspielräume des einzelnen Menschen einengt. Man muss dauernd auf der Hut sein, um nicht in Sekundenbruchteilen zum Täter oder zum Opfer zu werden.

Die Fakten, die für strengere Geschwindigkeitsbegrenzungen sprechen, liegen seit Jahren auf dem Tisch. Die Wissenschaftlerin Maria Limbourg von der Universität Essen hat sie noch einmal zusammengetragen: Bei Tempo 30 ereignen sich weniger Unfälle. Bei Tempo 30 haben Unfälle weniger schwere Folgen. Bei Tempo 30 können Gefahren besser erkannt werden. Bei Tempo 30 nehmen Autofahrer mehr Rücksicht auf Kinder. Tempo 30 erhöht die Sicherheit älterer Menschen im Verkehr. Und so weiter bis hin zu dem für Stadthektiker pulsmindernden Punkt, dass Tempo 30 die Fahrtzeit nur unwesentlich verlängert (das ganze Gutachten können Sie hier nachlesen und direkt kommentieren).

Ein Punkt in diesem Erkenntniskatalog fehlt noch und ist der wohl strittigste, weil noch immer ideologischer Ballast daran hängt: Tempo 30 sollte möglichst flächendeckend eingeführt werden. Ich halte diesen Punkt für plausibel. Statt stückweise Tempo-30-Zonen zu installieren, wäre ein entsprechendes stadtweites Tempolimit sinnvoll. Auch an Hauptverkehrsstraßen, den letzten Bastionen der Tempo-30-Gegner, liegen Schulen, Kitas und Altenwohnheime. Vor vielen wurden zwar Tempo-30- Zonen eingerichtet. Doch die sind meist so kurz, dass kaum ein Autofahrer wirklich vom Gas geht. Im Gegenteil: Wer sich in solchen Abschnitten tatsächlich an die Begrenzung hält, wird oft noch bedrängt und angehupt.

Außerdem sind häufige Wechsel verwirrend. Die Schöneberger Hohenstaufenstraße mit ihrem Wald von Tempo-30-immer-, Tempo-30-nur-nachts- und Tempo-50-Schildern ist ein Berliner Beispiel. Ignoriert werden sie alle, die Straße bleibt eine Raserpiste, obwohl an ihr mehrere Schulen und Kitas liegen.

Und schließlich sind auch auf Hauptstraßen Radfahrer unterwegs. Und sie werden immer mehr. Die Gefahr, von einem Abbieger angefahren zu werden, der bei hoher Geschwindigkeit nur kurz runterbremst und dann um die Ecke rauscht, ist für Radler sicherlich höher als in einer schon von der ganzen Anlage her ruhigeren Nebenstraße.

Wir sollten also das Prinzip umkehren: Tempo 30 gilt stadtweit. In gut begründeten Ausnahmen darf auf Hauptstraßen Tempo 50 gefahren werden mit entsprechender Beschilderung. Aber nur dann, wenn Radfahrern auch auf diesen Straßen angstfreie Bewegungsräume zugestanden werden. Ein angenehmer Effekt für das gesunde liberale Empfinden wäre übrigens, dass sich der Schilderwald deutlich lichten würde.

Die althergebrachte Liberalismusverbrämung der freien Raserei für freie Bürger feierte zuletzt im Berliner Wahlkampf noch einmal fröhliche Urständ. Zeit, sie auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.

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