zum Hauptinhalt

Meinung: Versorgungsauftrag Gesundheit: Pflicht oder Zufall?

„Kopflastig und überaltert“ vom 12. Juni Sie beschreiben eindrucksvoll den extremen Personalmangel in Berlin als Folge ziel- und planlosen Sparens.

„Kopflastig und überaltert“ vom 12. Juni

Sie beschreiben eindrucksvoll den extremen Personalmangel in Berlin als Folge ziel- und planlosen Sparens. Vor allem die Bezirke bluten aus. Zu den bezirklichen Diensten gehören auch die Gesundheitsdienste (z.B. Sozialpsychiatrischer Dienst). Diese erfüllen Pflichtaufgaben. Ein Teil dieser Pflichtaufgaben wurde zwar an freie Träger ausgelagert, deren Personal nicht im öffentlichen Dienst ist. Aber bei den freien Trägern herrscht oft ein noch größerer Mangel, denn die notleidenden Bezirke ergreifen teilweise deren Gelder und nutzen sie für andere Zwecke. Beispielsweise erhalten die Alkoholikerberatungsstellen nicht überall das Geld, das ihnen vom Senat zugedacht wurde. Wir haben aber im Jahr etwa 15 000 Krankenhausaufnahmen wegen Alkohol. Die Frage ist, wie das alles weitergehen soll. Während fast jedes Wochenende in der Stadt große Veranstaltungen inszeniert werden, vom Karneval bis zum Radrennen, steht der einfache kranke Bürger vor seinem Gesundheitsamt, und man lässt ihn nicht rein, weil Ärzte fehlen. Die Forderungen der Berliner Bezirksbürgermeister nach mehr Geld sind wichtig und sollten gehört werden. Derzeit heißt das Motto aber: Ihr Bezirke mit euren Gesundheitsämtern und Beratungsstellen seid zwar in der Pflicht, aber für die Erfüllung eurer Pflichten gibt’s kein Geld. So führen Sparmaßnahmen vielfach dazu, dass anderswo erhöhte Kosten entstehen, denn ohne Zweifel sind ambulante Beratungen und Hilfen billiger als stationäre Aufenthalte im Krankenhaus. Grundsätzlich wäre wohl zu klären, wie der Versorgungsauftrag der Gesundheitsämter und der freien Träger verstanden werden soll. Ist die Pflicht eine Pflicht? Falls ja, wie viel Personal braucht man zur Erfüllung der Pflichten? Welche Standards/Personalschlüssel sind vorzuhalten? Vielleicht müsste mal einer klagen, damit Juristen endlich Licht ins Dunkel des Planungsdickichts bringen können!

D. Heidt-Müller, Berlin-Hermsdorf

Ich danke Ihnen sehr für Ihren Leserbrief, in dem Sie auf den extremen Personalmangel der Bezirke verweisen. Sie haben als Beispiel den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) gewählt, der seine Pflichtaufgaben nicht mehr erfüllen kann. Das betrifft den von Ihnen angesprochenen Sozialpsychiatrischen Dienst einschließlich der Versorgung suchtkranker Menschen. Betroffen sind aber auch die sozialmedizinische Betreuung von Menschen mit Behinderungen, Krebs und Aids, der medizinische Kinderschutz mit den Ersthausbesuchen bei Neugeborenen, die therapeutische Versorgung behinderter Kinder. Auch 2011 schafft keiner der zwölf Bezirke rechtzeitig den Abschluss der Einschulungsuntersuchungen mit den bekannten Folgen: Die erforderlichen Hilfen für Kinder mit Behinderungen können vor den Sommerferien von den Schulen nicht angemessen vorbereitet werden, die Zusammenstellung der Klassen ist erschwert. Das Zentrum für tuberkulosekranke und -gefährdete Menschen steht am Rand der Arbeitsfähigkeit. Wie konnte es so weit kommen, fragen Sie sich jetzt vielleicht. Mehrere Faktoren wirken hier in ungünstiger Weise zusammen. Von 2003 an sind vom Senat Nachbesetzungen freiwerdender Stellen im ÖGD blockiert worden. Dies betraf sämtliche Berufsgruppen: Ärzte, Sozialarbeiter, Psychologen, (Zahn-)Arzthelfer, Therapeuten, Gesundheitsaufseher, Verwaltungskräfte etc. Ab 2006 wurden Außeneinstellungen zu maximal zwei Dritteln genehmigt. Bis heute hat es die Senatsseite den Bezirken nicht möglich gemacht, im erforderlichen Umfang Personal einzustellen, um die entstandenen Lücken zu schließen. In dieser langen Zeit kam der bundesweite Ärztemangel hinzu und wurden die Gehälter der Ärztinnen und Ärzte des Berliner ÖGD von der Ärzte-Gehaltsentwicklung abgekoppelt. Zwar gab es bis 2006 keinen Unterschied zwischen dem Grundgehalt von Ärzten im ÖGD und in den Kliniken, dann aber erstritten sich die Krankenhausärzte erhebliche Gehaltssteigerungen. Inzwischen betragen die monatlichen Unterschiede 1000 bis 2000Euro. Dadurch sind ausgeschriebene ÖGD-Arztstellen in einigen Bezirken bereits seit mehr als einem Jahr trotz mehrfacher teurer Ausschreibungen unbesetzbar. Ihr naheliegender Gedanke, sich unter solchen Bedingungen auf das Wesentliche, die absoluten Pflichtaufgaben zu beschränken, ist überzeugend. Tatsächlich, von 2003 bis 2010 wurde im Rahmen der Verwaltungsmodernisierung vom Senat mit Experten aus dem ÖGD der Bezirke genau die intensive Aufgabenkritik durchgeführt, die Sie vorschlagen. Die durch Gesetze vorgegebenen Aufgaben wurden definiert und dafür präzise Personalschlüssel ermittelt. Nachzulesen ist das alles im Internet, wenn Sie die Suchbegriffe „Umsetzung des GDG: Projektbericht“ eingeben. Nur hat es nichts genützt. Die erforderliche Personalaufstockung ist nicht erfolgt, die nötigen Geldmittel sind im Berliner Landeshaushalt bislang nicht eingeplant. Damit erfüllt das Land seine vornehmste Aufgabe – den Schutz derjenigen Menschen, die den Staat brauchen – nur unzureichend. Was davon zu halten ist, müssen die Berlinerinnen und Berliner nun letztlich selbst entscheiden.

— Dr. Claudia Wein, Fachärztin für Öffentliches Gesundheitswesen, Vorstandsmitglied im Verband der Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes der Länder Brandenburg und Berlin e.V.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false