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Ängstlich, rebellisch oder verblendet: Wenn Gaddafi abtritt, lässt er ein verstörtes Volk zurück.

© Reuters

Libyen: Verstörtes Land

Muammar Gaddafi hat sein Volk ausgeraubt und zugrunde gerichtet. Wie lange es auch dauern mag bis zum Sturz des Beduinen-Despoten, er lässt eine tief verstörte Gesellschaft zurück. Deren soziale und seelische Erholung wird Jahrzehnte dauern.

Alle zwei Tage tritt der Despot im Fernsehen auf. Sein alerter Sohn Saif gibt reihenweise Interviews im feinsten Hotel am Platze. Muammar Gaddafi und seine Handlanger haben sich in der Hauptstadt Tripolis eingeigelt. Und die Revolution in Libyen ist erst einmal ins Stocken geraten. Aus aller Herren Länder locken Verteidiger des Regimes inzwischen mit Öldollars Söldner herbei. Der Westen des Landes ist nach wie vor in der Hand des Gaddafi-Clans, der die Bewohner an jeder Straßenecke mit durchgeladenen Waffen in Schach halten lässt.

Im Osten dagegen hat der Aufstand an Dynamik verloren, die Menschen sind erschöpft. Dort wächst die Gefahr, dass Gaddafis Leute mit schnellen Jeeps, Kampfflugzeugen und massiven Panzerkräften zurückkommen. Erste Angriffe auf die Versorgung der Gaskraftwerke von Benghasi laufen bereits. Die gesamte Cyreneika von Benghasi bis Tobruk ließe sich über die schnurgerade Wüstenstraße im Hinterland rasch umzingeln. Die Aufständischen wissen, ihr Despot schreckt vor nichts zurück, um seine erschütterte Macht zu retten.

Die USA und Europa stellt das Drama an der gegenüberliegenden Küste des Mittelmeers vor ein Dilemma. Offiziell lehnt die neue politische Führung im befreiten Teil-Libyen jede ausländische militärische Intervention ab. Sie wollen den Sieg aus eigener Kraft erringen, nicht westlichem Militär verdanken. Intern jedoch scheinen sie zu der Ansicht zu gelangen, dass die eigenen Kräfte zu schwach sind. Die zu den Aufständischen übergelaufenen Offiziere bekennen offen, ihre Einheiten können mit dem Waffenarsenal und den Söldnern des Diktators allein nicht fertig werden. Die besten Panzer, Kriegsjets und Hubschrauber sind in Händen der Elitetruppen von Gaddafis Söhnen. Die Regimegegner dagegen haben nur Militärschrott und eine gute Moral.

Ohne eine von den Vereinten Nationen verhängte Flugverbotszone, ohne westliche Luftangriffe auf Gaddafis Panzerarsenale und Fliegerhorste ist der Diktator wohl nicht so bald zu bezwingen. Ein Eingreifen der Nato aus der Luft aber könnte das Bündnis schnell in neuen Zugzwang bringen. Gaddafis Soldateska wird nicht einfach verschwinden. Sie könnte einen blutigen Rachefeldzug gegen die Zivilbevölkerung entfesseln. Das fallende Regime könnte versuchen, alle Ölanlagen in Brand zu setzen. Dann müsste der Westen sehr bald Bodentruppen folgen lassen, um die Bewohner sowie die Ressourcen Libyens vor Tod und Zerstörung zu bewahren. Europas Soldaten stünden mitten in einem Bürgerkrieg.

Für vier Jahrzehnte war Libyen ein weißer Fleck auf der politischen Landkarte der Welt. Niemand wusste wirklich, was dort vorging. Der Volksaufstand hat erstes Licht in das Dunkel gebracht – und offenbart Libyen als krassesten Fall von Machtmissbrauch in der arabischen Welt. Kein Diktator hat so brutal und despotisch geherrscht, seine Untertanen nach Belieben eingesperrt, gequält oder verschwinden lassen. Kein Diktator hat so viel Geld außer Landes geschafft. Nach heutigen Erkenntnissen beträgt der dem Volk unterschlagene Wohlstand mehr als das Doppelte der offiziellen Devisenreserven von 70 Milliarden Dollar. Muammar Gaddafi hat sein Volk ausgeraubt und zugrunde gerichtet. Wie lange es auch dauern mag bis zum Sturz des Beduinen-Despoten, er lässt eine tief verstörte Gesellschaft zurück. Deren soziale und seelische Erholung wird Jahrzehnte dauern.

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