zum Hauptinhalt

Meinung: Verzweiflungstäter

Wenn der Pflug tschetschenischer Bauern auf etwas Hartes stößt, ist es meist eine Patronenhülse oder ein Granatsplitter. Manchmal aber auch ein Grabstein mit dem Zeichen des Kreuzes: Im Mittelalter wurden die Tschetschenen Georgien tributpflichtig und von dessen Königen zum Christentum bekehrt.

Wenn der Pflug tschetschenischer Bauern auf etwas Hartes stößt, ist es meist eine Patronenhülse oder ein Granatsplitter. Manchmal aber auch ein Grabstein mit dem Zeichen des Kreuzes: Im Mittelalter wurden die Tschetschenen Georgien tributpflichtig und von dessen Königen zum Christentum bekehrt. Den Islam nahmen sie erst an, als Russland Ende des 16. Jahrhunderts mit der Eroberung des Kaukasus begann. Ihr archaischer Ehrenkodex verbot ihnen, gegen Glaubensbrüder das Schwert zu zücken.

Sie begriffen den Islam jedoch weniger als neue Heilslehre denn als Ideologie des Widerstands. Er wurde durch Negation des Nationalen auch zu einer Art kleinstem gemeinsamen Nenner für die sprachlich und kulturell sehr heterogenen Völker des Nordkaukasus, die bis dato ihre Kräfte oft in Stammesfehden und lokalen Kriegen um Weidegründe und das knappe Ackerland verschlissen hatten und damit der Südexpansion Russland unfreiwillig Vorschub leisteten. Unter dem grünen Banner des Propheten brachte der tschetschenische Scheich Mansur Uschurma 1785 erstmalig eine Kampfgemeinschaft mehrerer Kaukasusvölker gegen die Okkupanten auf den Weg. Sie eroberte 1832 unter dem dagestanischen Imam Schamil große Teile des Nordostkaukasus zurück und errichten dort einen islamischen Gottesstaat. Ihn konnten die Russen erst 1859 besiegen. Dank überlegener Technik – die Kaukasier hatten keine Artillerie – und mit großen Blutopfern. Mit islamischen Losungen gingen die Tschetschenen seit 1920 auch in die bewaffneten Aufstände gegen die Sowjets, betrieben im Herbst 1991 die staatliche Unabhängigkeit und führten schließlich die ihnen daraufhin von Moskau aufgezwungenen Kriege. Diese Umstände haben die Tschetschenen und ihr Lebensumfeld, aber vor allem den Islam im Kaukasus tiefgreifend verändert.

Schon den christlichen Glauben hatten die Tschetschenen mit eigenen Kulturelementen und den Vorstellungen ihrer alten Naturreligionen vernetzt. Auch der Islam konnte sich nur mit Konzessionen an das Adat – das alte kaukasische Gewohnheitsrecht – behaupten. Nicht von ungefähr setzte sich daher in Tschetschenien die hanefitische Ausrichtung als toleranteste von insgesamt vier Rechtsschulen im sunnitischen Islam durch. Sie reduziert den Einfluss des Staates auf ein Minimum und delegiert wichtige Entscheidungen an Gemeinden und Stämme – tschetschenisch: Teibs –, von denen es in der Republik, die knapp so groß wie die Schweiz ist, rund 150 gibt. Deren Platz innerhalb einer rigiden Hierarchie regeln ethnische und territoriale Kriterien. Opinion leader sind die Teibs der östlichen Berge, die traditionell jede Kollaboration mit den Russen und die Vermischung mit anderen Ethnien ablehnen.

Moskau machte sich selten die Mühe, die komplizierten Strukturen im Kaukasus auch nur zu begreifen, geschweige denn, sie in seiner Politik zu berücksichtigen. Eine Ausnahme waren die Zaren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nach dem Sieg über Schamils Imamat bekam der Nordkaukasus weitgehende innere Autonomie. Kaukasische Soldaten wurden im Ersten Weltkrieg nicht an Frontabschnitten eingesetzt, wo Russland gegen das muslimische Osmanische Reich kämpfte. Aufstände blieben daher aus. Sie flammten jedoch mit neuer Wucht auf, als die Sowjets, statt Islam und Stammesdemokratie zu integrieren, versuchten, deren Rivalitäten gegeneinander auszuspielen, um beide als Machtfaktoren zu liquidieren.

So setzte das NKWD Anfang der Zwanziger auf Differenzen zwischen den Sufi-Orden, einer mystischen Seitenrichtung des Islam, der im Kaukasus ebenfalls traditionell großen Einfluss hat. Mit später gebrochenen Versprechen mobilisierten die roten Kommissare zunächst die Qadiriya, die von plebejischen Teibs unterstützt wurde, gegen die Nakschbandiya als Orden der Elite, um dann die Qadiriya-Scheichs zu massakrieren. Der Orden, der seit je gewaltbereiter war als die Konkurrenz, ging daraufhin in kompromisslose Opposition. Und bekam trotz drakonischer Strafen immer neuen Zulauf. Vor allem von Tschetschenen, die im strukturschwachen Nordkaukasus keine Beschäftigung fanden und sich als Wanderarbeiter in anderen Regionen Russlands durchschlagen mussten, wo sie als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden.

Nach der Unabhängigkeitserklärung dominierte die Qadiriya zunächst in allen offiziellen religiösen Institutionen, verlor aber schon vor Beginn des ersten Tschetschenienkrieges ihren Einfluss an einen noch radikaleren Konkurrenten – die saudische Sekte der fundamentalistischen Wahabbiten. Mit deren Petrodollars wurde der Verteidigungskrieg gegen Moskau zu einem Gutteil finanziert. Dies führte aber gleichzeitig zu einer Vernetzung des tschetschenischen Befreiungskampfes mit dem internationalen Terrorismus.

Der 11. September hat den Trend der öffentlichen Meinung in vielen westlichen Ländern verstärkt, diese Bemühungen um nationale Souveränität mit einem aggressiven Islam gleichzusetzen. Auf internationales Verständnis für ihr Anliegen können die Tschetschenen wohl erst rechnen, wenn sie sich auf überzeugende Weise von dieser Nähe befreien.

NAME

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false