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Direkte Demokratie: Volkes Stimme

Je schwächer die Bindungskraft der traditionellen Volksparteien wird, umso häufiger verlaufen Trennungslinien bei Sachfragen quer durch die Parteien. Plebiszite werden in dieser Situation zum demokratischen Kitt einer sich wandelnden Republik.

Da gibt es was zu lernen. In vielfacher Hinsicht. Nicht nur für Hamburg, sondern für Deutschland. Der Volksentscheid darüber, wie Kinder in Hamburg künftig lernen, wird nicht nur das politische Schicksal von Bürgermeister Ole von Beust entscheiden, sondern ist auch eine Wegmarke für das föderale Bildungssystem in der Bundesrepublik. Die emotionalisierte Debatte an der Elbe zeigt zudem, wie direkte Demokratie immer stärker die gesellschaftliche Wirklichkeit der Republik prägt.

Mehr Demokratie wagen – das Recht nehmen sich immer mehr Bürger. Anders aber, als Willy Brandt einst ahnen konnte, kommt der Reformdruck nicht mehr aus den Parteizentralen, sondern von unten. Vor zwei Wochen erst haben die Bayern die CSU düpiert, dem Land das schärfste Nichtraucherschutzgesetz verordnet und zugleich der Republik eine heftige Debatte über bundeseinheitliche Regelungen. Sollen Kinder in Hamburg künftig nicht vier, sondern sechs Jahre gemeinsam lernen und erst dann in ein nur noch zweigliedriges Schulsystem nach Berliner Vorbild wechseln? Darüber werden nun am Sonntag die Bürger entscheiden.

In Berlin wiederum haben das Volksbegehren gegen die Schließung des Flughafens Tempelhof und die Abstimmung über die Einführung eines verpflichtenden Religionsunterrichts der Hauptstadt erbitterte Debatten beschert. Die jeweiligen Niederlagen für die Initiatoren haben nicht nur veränderte Mehrheitsverhältnisse sichtbar gemacht. Gerade der Streit um Pro Reli hat zu einer vorher undenkbar erscheinenden ernsthaften Debatte über religiöse Werte in einer säkularen Gesellschaft geführt, die auch ein Jahr danach noch nachwirkt. Für Politiker sind Volksentscheide deshalb Fluch wie Segen. Sie können Politik legitimieren und die Akzeptanz von Entscheidungen fördern, wie die inzwischen weithin akzeptierte Schließung des Traditionsflughafen Tempelhof belegt. Sie können – wie in Bayern geschehen – aber auch Regierungen für deren handwerkliche Murkserei und politischen Schlingerkurs bestrafen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass Politiker ihre Schwierigkeiten mit Volksbegehren und Bürgerentscheiden haben: Schließlich nimmt sich das Volk ein wenig von der Macht zurück, die Politiker exklusiv für sich reklamieren. Die deutliche Zunahme von Plebisziten kann aber auch anders gelesen werden: als Widerspiegelung einer in Bewegung geratenen Republik und eines aufgefächerten Parteienspektrums. Je schwächer die Bindungskraft der traditionellen Volksparteien wird und je mehr festgefügte Lager ausdünnen, umso häufiger verlaufen Trennungslinien bei Sachfragen quer durch die Parteien. Plebiszite werden in dieser Situation zum demokratischen Kitt einer sich wandelnden Republik; sie ziehen die Menschen in gesellschaftliche Debatten hinein und wirken gegen das Ohnmachtsgefühl gegenüber der etablierten Politik. Gerade der Volksentscheid in Hamburg ist Ausdruck dieser neuen Unübersichtlichkeit. Die Initiative „Wir wollen lernen“ rekrutiert sich aus den bürgerlichen Schichten, den Stammwählern der Hamburger CDU – während das politische Überleben des Überzeugungstäters Ole von Beust von den Schulreform-Freunden in SPD und Linke abhängt.

Wo sich Koalitionen politisch zur Handlungsunfähigkeit neutralisieren, können die Instrumente der direkten Demokratie die Politik aus der Selbstblockade führen. Nicht immer, aber immer öfter. Zumindest auf der Ebene der Bundesländer und der Kommunen ist das längst keine Frage mehr. Für nationale Volksentscheide, über die der SPD-Bundesvorsitzende Sigmar Gabriel kürzlich nachdachte, kann das anders aussehen. Volksentscheide über komplexe oder populistische Fragen wie den Afghanistan-Abzug oder die Sicherungsverwahrung für Schwerverbrecher mag man sich lieber nicht vorstellen. Doch wer Angst vorm Volk hat, der muss das tun, was Aufgabe der Politik ist: Probleme so lösen, dass nicht unausgegorene Kompromisse herauskommen und Gerichte zu Ersatzgesetzgebern werden müssen. Dann entlädt sich der Frust der Wähler erst recht beim Kreuz im Wahllokal.

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