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Ukrainischer Soldat im Kampf gegen russische Separatisten.

© AFP

Vom Universalismus zur multipolaren Weltordnung: An den Grenzen des Westens

Der Optimismus von der universellen Geltung westlicher Werte hat zum Chaos im Nahen Osten beigetragen. Der Westen hat sich überdehnt und damit in seiner eigenen Substanz geschwächt. Islamisten stoßen in das Machtvakuum vor. Doch trotz seiner empfindlichen Niederlagen in der islamischen Welt hat der Westen in der Ukraine eine zweite Front für die „Unteilbarkeit der Menschenrechte“ eröffnet. Ein Gastbeitrag.

Die westliche Außenpolitik gründet - verstärkt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion - auf dem zivilreligiösen Glauben an die Universalität von Demokratie und Menschenrechten. Die verschiedenen Weltkulturen und die ihnen zugehörigen Weltmächte definieren sich aber nicht nach einer universalen, sondern nach unterschiedlichen Werteordnungen, in denen Rechte und Pflichten, Individualität und Kollektivität, Mensch und Gott in unterschiedlichen Rangordnungen zueinander stehen.

Der westliche Universalismus wird von den anderen Werteordnungen als eine neue Form des Imperialismus empfunden, er hat deren kulturellen und neuerlich vor allem religiösen Fundamentalismus und damit Kämpfe der Kulturen mit hervorgetrieben und den Westen darüber wiederum in Kulturkonflikte verstrickt, die er schon aufgrund seines Kulturrelativismus kaum versteht. Diese Verstrickungen haben zu seiner Überdehnung und zu seiner Schwächung beigetragen, militärisch, finanziell und politisch.

Der Optimismus von der universellen Geltung westlicher Werte und Strukturen hat zum Chaos im Nahen Osten beigetragen. In Folge dieses Geltungsanspruchs hat sich der Westen überdehnt und damit in seiner eigenen Substanz geschwächt. Islamisten stoßen in ein Machtvakuum vor, welches ohne den ideellen Übermut des Westens, säkulare Diktaturen beseitigen zu helfen, nicht entstanden wäre.

Trotz seiner empfindlichen Niederlagen in der islamischen Welt hat der Westen in der Ukraine eine zweite politische Front für die „Unteilbarkeit der Menschenrechte“ eröffnet. Je relativistischer der Westen gegenüber seinen Werten im Innern ist, desto nachdrücklicher scheint er sie an seinen Grenzen verbreiten zu wollen. In Sydney ließ sich Angela Merkel fast zu einem programmatischen Statement verleiten: "Wenn wir nicht daran glauben, dass unsere Werte so viel wert sind, dass sie sich durchsetzen, brauchen wir auch unsere Sonntagsreden nicht mehr zu halten."

Der nach Europa vorrückende Islamismus straft unsere mangelnde Einsicht in die Grenzen unserer Möglichkeiten

Die Durchsetzbarkeit der Werte nach außen wird darüber zum Maßstab ihrer Gültigkeit erklärt. Doch tragischer weise stoßen unsere universell gedachten Werte schon im Nahen Osten und im nahen Osteuropa an die Grenzen ihrer Universalisierbarkeit. Der nach Europa vorrückende Islamismus straft unsere mangelnde Einsicht in die Grenzen unserer Möglichkeiten.

In einer multipolaren Ordnung entsteht Selbstbehauptung eher aus Selbstbegrenzung denn aus Erweiterung. Für eine neue Strategie der Selbstbegrenzung kann der Westen an seiner Kompromissfähigkeit mit Mächten anknüpfen, die zu sanktionieren ihm schon lange nicht mehr möglich ist. Etwa Saudi-Arabien, China und Türkei behaupten in Bahrain, Tibet und gegenüber den Kurden nachdrücklich ihre Einflusssphären, ohne das wir dies auch nur zu ändern versuchen.  

Doch während der Westen auch in Georgien im Jahr 2008 noch russische Interessen akzeptierte, geißelt Angela Merkel nun das Vordringen in der Ostukraine als „altes Denken in Einflusssphären“. Die Ostukraine wird offenkundig zur westlichen Sphäre gerechnet. Zudem erscheint das geschwächte Russland als Sicherheitspartner verzichtbar. Beide Annahmen sind falsch. Während sich die größten Teile der Ukraine geschichtlich und religiös dem Westen zuwenden, dominieren in der Ostukraine die russische Ethnie, Sprache und Religion. Dadurch tritt hier auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Kulturen in Konkurrenz zu dem auf die Erhaltung der Staatenwelt ausgerichteten Völkerrecht.

Mit dem Eindringen in den russisch-orthodoxen Kulturkreis sind die Grenzen sowohl der Nato als auch der Europäischen Union überschritten worden. Wäre die Ukraine – so Peter Scholl-Latour – Bestandteil der russischen Einflusssphäre geblieben, hätte sich die slawische Bevölkerung einer Eurasischen Union um vierzig Millionen vermehrt. Nunmehr sei der dramatisch schrumpfende europäische Bevölkerungsanteil Russlands der Geburtenexplosion von mehr als zwanzig Millionen muslimischen Staatsbürgern ausgesetzt. Scholl-Latour hatte schon frühzeitig auf die geopolitische Lage von „Russland im Zangengriff“ hingewiesen.

Der Zusammenprall des westlichen Universalismus mit dem russischen Kulturalismus ist ein weiterer Kampf von Kulturen

In seinem letzten Buch stellt er die Frage, ob es nicht eine historische Fehlentscheidung historischen Ausmaßes gewesen sei, eine fatale Missachtung der Geographie und der ethnischen Rivalitäten, dass die Strategen Washingtons und ihre europäischen Trabanten zum Konfrontationskurs gegenüber Russland antraten, wo doch der Kampf gegen den Terrorismus und die Eindämmung des gewalttätigen Islamismus ein gemeinsames Anliegen von Russen, Amerikanern und Europäern hätte sein müssen. 

Der Zusammenprall des westlichen Universalismus mit dem russischen Kulturalismus ist ein weiterer Kampf von Kulturen. Er verhindert schon heute die Handlungsfähigkeit des UN-Sicherheitsrates und mittelfristig das Entstehen einer multipolaren Weltordnung, deren Grenzen in erheblichem Maße entlang der kulturellen Hemisphären verlaufen würden. Die Staatenwelt ist heute gegenüber Kräften der Ökonomie und des Verbrechens längst in der Defensive. Sie sollte ihre Energien bündeln und nicht gegeneinander im Konflikt verzehren oder alte Einkreisungsspiele betreiben - wie die USA beim neuen Rivalen China. Weitergehende Sanktionen könnten Putin so schwächen, dass nach ihm ein mit dem Nahen Osten vergleichbares Chaos ausbrechen könnte. 

Dagegen war die Politik der friedlichen Koexistenz im Kalten Krieg von weiser Zurückhaltung geprägt gewesen. Wie die schon zwischen inkompatiblen politischen Ideologien brauchen wir heute eine Koexistenz zwischen inkompatiblen Werteordnungen. In ihrem Rahmen könnten Wege wie eine Föderalisierung der Ukraine oder eine politische motivierte Einbeziehung Russlands in einen Assoziationsvertrag zwischen der EU und der Ukraine leichter angedacht werden als im rechthaberisch-universalistischen Anspruch.

Auch im Kalten Krieg galten uns Demokratie und Menschenrechte als oberste moralische Werte, gleichwohl stellte die Realpolitik jener Epoche die Grenzen der Systeme immer in Rechnung. Sie half der Welt, die Berlin- und Kubakrise und den Vietnam-Krieg zu überstehen. Ihre Spielregeln ermöglichten flexible Reaktionen, die von der Eindämmung bis zur Entspannung reichten. Entscheidend war jedoch der Verzicht auf die Durchsetzung der eigenen moralischen und politischen Ansprüche zugunsten der Anerkennung der gegnerischen Sphäre. Ein Assoziationsvertrag der EU mit der Ukraine müsste daher zu Handelserleichterungen mit Russland überleiten und Abtrennungen im Wege von Volksentscheiden eingeleitet werden. Zumindest sollten wir auf eine Föderalisierung der Ukraine mit kulturell weitgehend autonomen Landesteilen hinwirken, um damit ihre Brückenfunktion zu Russland erleichtern.

Eine multikulturelle und multipolare Weltordnung ist die einzig verbliebene Alternative zur voranschreitenden Weltunordnung. Der geschwächte Westen ist auf die Kooperation anderer Großmächte längst so angewiesen, dass er weder Staaten aus ihrem Umfeld abwerben noch sich ihnen gegenüber als Lehrmeister aufspielen sollte.

Die im Nahen Osten jetzt überdeutlich gewordene Grenze der westlichen Macht könnte zur Suche nach einer multipolaren Ordnung überleiten. Schon um die Barbarei der Isis in der Levante zu stoppen, müssen sich die USA mit den dortigen Machtpolen Iran, Saudi-Arabien und Israel gleichzeitig verbünden. Mit Luftschlägen allein scheint die Isis nicht besiegbar zu sein. Da die USA aus gutem Grund vor weiteren Bodeneinsätzen in der islamischen Sphäre zurückscheuen, kann sie nicht mehr wählerisch sein. Schon jetzt dürften der diskrete Schulterschluss zwischen irakischen und iranischen Schiiten für die Verteidigung Bagdads unverzichtbar geworden sein. Ohne die Hilfe Russlands ist an eine Beendigung des Krieges in Syrien von außen nicht zu denken.

Der Kampf der Kulturen ist in einen Kampf der Barbarei gegen die Zivilisation übergegangen

Über den weltweiten Kampf des Islamismus gegen jegliche Form der Säkularität ist der Kampf der Kulturen in einen Kampf der Barbarei gegen die Zivilisation übergegangen. Die Eindämmung des neuen Totalitarismus erzwingt ein Minimum an Kooperation aller halbwegs zivilisierten Kräfte - jenseits alter politischer und kultureller Unterschiede.

Wir können dem Kampf der Kulturen nicht länger ausweichen, indem wir ihn verleugnen oder mit schönen Begriffen wie „interkultureller Dialog“ und „Integration“ verniedlichen. Islamisten lehnen das eine wie das andere ab. Die Konflikte zwischen säkularen Staaten und islamistischen Bewegungen sind längst wichtiger als die zwischen demokratischen und autoritären Herrschaftsformen. Wie bereits im Kalten Krieg wären autoritäre Regime gegenüber totalitären Bewegungen das kleinere Übel.

Für seine neue Rolle in der multipolaren Welt braucht der Westen eine neue Strategie: An die Stelle der schon in seiner Nachbarschaft illusionären Universalisierung seiner Werte und Strukturen tritt das Ziel seiner eigenen Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung. Für die Eindämmung des Islamismus muss er mit anderen säkularen Mächten wie Russland, China und auch mit gemäßigten islamischen Staaten kooperieren. Solche Koalitionen sind keine Wertegemeinschaft, aber Stockwerke für den Bau einer multipolaren Weltordnung.

- Heinz Theisen ist Politikwissenschaftler und lehrt an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln.

Heinz Theisen

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