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Meinung: Von der Schutzpflicht des Staates

Deutschland im Visier des Terrorismus: Warum es im Notfall erlaubt sein muss, ein entführtes Passagierflugzeug abzuschießen

Auch wenn der Terrorismus schon in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in Europa Teil der Realität war, die sich in Deutschland als Rote Armee Fraktion, in Italien als Brigate Rosse oder in Frankreich als Action Directe zeigte, so hat sich seine Stoßrichtung doch erheblich gewandelt. Der Terror richtet sich nicht nur gegen staatliche Funktionsträger, sondern gegen die Gesellschaft insgesamt. Der politische Mord ist durch das Massenverbrechen abgelöst worden.

Die Wahl weicher Ziele wie Geschäftshäuser, Hotels oder Diskotheken, die sich nur begrenzt schützen lassen, erschwert die Verteidigung ebenso wie die Bereitschaft der Täter zur Aufopferung des eigenen Lebens. Grundlegend geändert hat sich das Bedrohungsszenario aber vor allem durch die völlig neue Infrastruktur des Terrors. Was in New York 2001, auf Bali 2002, in Madrid 2004 oder in London 2005 geschah, setzte ein logistisches Umfeld voraus, das durch die Globalisierung der letzten Jahre ermöglicht wurde.

Vielfältige und unberechenbare Bedrohungen nichtstaatlicher Akteure fordern das staatliche Gewaltmonopol heraus. Ob völkerrechtlicher Angriff oder innerstaatliches Verbrechen, ob Kombattant oder Krimineller, ob Krieg oder Frieden: Die überkommenen Begriffe verlieren ihre Trennschärfe und damit ihre Relevanz. Der neue Terrorismus lässt die traditionelle Grenze zwischen innerer und äußerer Sicherheit verschwimmen. Auch wenn nicht hinter jeder Gewalttat ein Staat steht, dem sie zugerechnet werden kann, so sind doch in der Regel ausländische Akteure beteiligt, und das Zerstörungspotenzial erreicht zumindest punktuell Ausmaße, wie wir es vorher nur aus kriegerischen Auseinandersetzungen kannten. Spätestens der 11. September 2001 hat gezeigt, dass wir dem neuzeitlichen Terror nicht mehr allein mit polizeilichen Mitteln begegnen können.

Auch die Vereinten Nationen gehen von einem existenziellen Gefährdungspotenzial des Terrorismus für die gesamte westliche Welt aus. Am 12. September 2001 qualifizierte der Sicherheitsrat in seiner Resolution 1368 die Anschläge in den USA als Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit und bestätigt das im Falle eines Angriffs bestehende Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung. Schließlich führten die Anschläge des 11. September 2001 auch erstmals dazu, dass die Nato den Bündnisfall nach Art. 5 des Nato-Vertrags ausrief, in dem wir uns bis heute befinden.

Welche Aufgaben ergeben sich daraus für die Politik? Ausgangspunkt modernen Staatsdenkens ist die Gewährleistung äußerer und innerer Sicherheit. Dem dient das staatliche Gewaltmonopol, dessen Ziel es spätestens seit Thomas Hobbes ist, die Bedingungen eines Lebens in Sicherheit und die Befriedigung der individuellen Lebensbedürfnisse zu ermöglichen. Im Leviathan formuliert er 1651: „Die Aufgabe des Souveräns, ob Monarch oder Versammlung, ergibt sich aus dem Zweck, zu dem er mit der souveränen Gewalt betraut wurde, nämlich der Sorge für die Sicherheit des Volkes.“

Auch der Staat des Grundgesetzes ist gehalten, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Das Bundesverfassungsgericht hat schon früh anerkannt, dass die Wahrung von Sicherheit und Rechtsfrieden Verfassungsrang hat. Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht sowie die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind. Von ihnen leitet die Institution Staat die eigentliche und letzte Rechtfertigung her. Wie anders sollte der Staat seiner grundrechtlichen Schutzpflicht für Leben und Gesundheit der Menschen gerecht werden?

Die Balance zwischen sicherheitspolitisch Notwendigem und rechtsstaatlich Vertretbarem ist möglich; zwischen Sicherheit und Freiheit besteht kein kategorischer Gegensatz, sondern ein Verhältnis wechselseitiger Ergänzung. Schon Wilhelm von Humboldt hat ebenso klar wie bündig festgestellt, dass „keine Freiheit ohne Sicherheit ist“. Freiheit im Rechtsstaat bedingt immer Bindung an das Recht und damit staatliche wie gesellschaftliche Pflicht zum Rechtsfrieden.

In diese Diskussion gehört auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz. Nach der Entscheidung des 1. Senats verstößt das Gesetz schon formell gegen das Grundgesetz. Den materiellen Verstoß sieht das Bundesverfassungsgericht in der Unvereinbarkeit mit dem Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG. Dabei deutet das Gericht Zweifel an der Regelbarkeit der Tötung von Passagieren eines entführten Luftfahrzeuges an.

Der Staat gerät so in ein kaum lösbares Dilemma: Genügt er seiner Schutzpflicht gegenüber den Menschen, die am Boden durch das Flugzeug bedroht sind, so würde dies im Extremfall zu einer ausnahmslos verbotenen Verletzung der Menschenwürde führen. Bleibt der Gesetzgeber hingegen untätig, überlässt er die exekutiv Verantwortlichen nicht hinnehmbarer Unsicherheit und verletzt damit die Schutzpflicht gegenüber den betroffenen Bürgern.

Um eine Bedrohung im Ernstfall rechtsstaatlich bewältigen zu können, ist eine Regelung notwendig. Die Entscheidung des Verteidigungsministers als Inhabers der Kommandogewalt kann nur wirksam werden, wenn sie sich auf klare rechtliche Grundlagen stützen kann. Die jüngste Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Befehlsverweigerung hat das deutlich in Erinnerung gerufen.

Schließlich muss auch die Verantwortungsteilung zwischen Polizei und Streitkräften im Gleichgewicht bleiben. Wenn wir uns die Frage stellen, ob die Bundeswehr unter bestimmten Voraussetzungen auch im eigenen Land zu Schutzzwecken eingesetzt werden kann, sind diese genau zu definieren. Dieser Aufgabe muss sich die Politik stellen. Es macht auf Dauer keinen Sinn, dass die Bundeswehr überall auf der Welt vielfältige Aufgaben wahrnehmen kann, nur nicht in dem Land, in dem das Grundgesetz gilt – eine Aufgabentrennung, mit der die deutsche Verfassungslage nahezu ein Unikat unter den westlichen Demokratien ist.

Das Urteil zum Luftsicherheitsgesetz setzt Akzente. Das neue Rechtsinstitut der Abschussermächtigung – typologisch nichts anderes als ein militärischer Kampfeinsatz – ausschließlich als Anwendungsfall der Amtshilfe des Bundes für die Länder (Art. 35 GG) einzuordnen, war der Versuch, die bestehende Systematik des Grundgesetzes unangetastet zu lassen. Dem hat das Bundesverfassungsgericht eine Absage erteilt.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Entscheidung zu § 14 Abs. 3 LuftSiG darauf beschränkt, den Abschuss eines Flugzeuges samt tatunbeteiligter Insassen für den Bereich der Gefahrenabwehr als mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbar und damit nichtig zu erklären. Es konnte sich darauf beschränken, weil das Luftsicherheitsgesetz selbst den Abschuss im Bereich der Gefahrenabwehr geregelt hat. Im Rahmen der Gefahrenabwehr ist jedoch kein Platz für die gezielte Tötung Tatunbeteiligter.

Der Frage, ob die Menschenwürdegarantie durch eine solidarische Einstandspflicht in extremen Notstandssituationen immanent beschränkt sei, hat der Senat nicht entschieden. Nach seiner Ansicht geht es im Anwendungsbereich der besonderen polizeilichen Gefahrenabwehr nach Artikel 35 GG nicht um die Abwehr von Angriffen, die auf Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind, sondern ausschließlich um Gefahrenabwehr. Damit schließt das Bundesverfassungsgericht nicht aus, dass der Abschuss im Verteidigungsfall einer anderen verfassungsrechtlichen Beurteilung zugänglich ist.

Die Abwehr eines drohenden terroristischen Anschlags mittels eines entführten Passagierflugzeugs wird nicht stets und kaum im Moment des Angriffs als Verteidigung im Sinne des Grundgesetzes bezeichnet werden können. Wenn auch im Einzelnen offen bleiben kann, wie weit der Begriff der Verteidigung im Bereich der Terrorismusbekämpfung trägt, so setzt er nach bisherigem Verständnis voraus, dass es sich um einen von außen geführten Angriff auf das Bundesgebiet handelt. Bei der in einer akuten Bedrohungssituation durchzuführenden Ex-ante-Betrachtung der Entscheidungsträger wird eine Zurechnung zu möglicherweise hinter einem Anschlag stehenden Staaten kaum gelingen.

Dies kann aber nur ein Zwischenergebnis sein. Der Staat muss in der Lage sein, auf die tatsächlich vorhandenen Bedrohungen wirksam zu reagieren, um die Gesellschaft zu schützen. Wenn der Staat kapituliert, stellt er nicht nur das Gewaltmonopol infrage, sondern er verweigert sich kategorisch seiner Schutzpflicht gegenüber den von dem Anschlag bedrohten Menschen. Wir müssen den Staat und seine Organe daher mit denjenigen rechtlichen Befugnissen ausstatten, die notwendig sind, um tatsächlich vorhandene Gefahren für den Staat und seine Bürger abzuwehren. Eine Lösung ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts möglich, sie erfordert jedoch eine Verfassungsänderung. Dabei sind zwei Regelungskomplexe zu unterscheiden:

Zum einen geht es um die Abwehr von terroristischen Angriffen, die den Staat in seinen Grundlagen erschüttern. Aufgrund ihrer Zielrichtung und Intensität sind diese Angriffe nicht mehr in den Bereich der bloßen polizeilichen Gefahrenabwehr einzuordnen, sondern haben politisches Ausmaß im klassischen Sinn.

Zum anderen geht es um Bedrohungen, die typologisch sehr wohl in den Bereich der polizeilichen Gefahrenabwehr gehören – beispielsweise das Frankfurter Kleinflugzeug –, für deren Abwehr aber ausnahmsweise militärische Mittel erforderlich sind.

Damit die Bundeswehr, die über die militärischen Mittel und Fähigkeiten für wirksame Gegenmaßnahmen verfügt, im Falle eines zerstörerischen Anschlags auch schützend einschreiten darf, bedarf es einer zusätzlichen Einsatzermächtigung für die Streitkräfte in Art. 87 a GG. Bei Angriffen auf die Grundlagen unseres Gemeinwesens müssen die Streitkräfte ebenso eingesetzt werden dürfen wie im klassischen Verteidigungsfall. Eine auf dieser Annahme fußende Rechtsgrundlage würde den Streitkräften die notwendige Handlungsfähigkeit geben.

Anders als der vom Bundesverfassungsgericht verworfene § 14 Absatz 3 LuftSiG dient eine solche Regelung nicht der Gefahrenabwehr, sondern dem Schutz des Gemeinwesens und ist dem Bereich des Politischen zuzuordnen. Bei der Gefahrenabwehr geht es um den Schutz individueller Rechtsgüter. Die Grundlagen des Gemeinwesens sind demgegenüber ein kollektives Schutzgut. Ist der Staat als Ganzes bedroht, ist er berechtigt, seine Existenz zu verteidigen und das Erforderliche zu tun, um das rechtlich verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zu bewahren, die auf seinen Zusammenbruch zielen. Dies ist dem demokratischen Rechtsstaat und dem Grundgesetz nicht fremd.

Auch für Fälle, die in ihrer Intention und von ihrer Intensität her nicht darauf gerichtet sind, die Grundlagen unseres Gemeinwesens zu erschüttern, besteht Handlungsbedarf aufgrund der vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Unterscheidung zwischen „spezifisch militärischen“ und „sonstigen polizeilichen“ Mitteln. Denn es gibt Fallgestaltungen, in denen eine Gefahr, die im Rahmen von Art. 35 GG abgewehrt werden soll, nicht mit polizeilichen Mitteln abgewendet werden kann. Zu denken ist zum Beispiel an das als Waffe missbrauchte, allein vom Täter besetzte Kleinflugzeug. In solchen Fällen muss es den Streitkräften möglich sein, auch spezifisch militärische Mittel zur Abwendung der Gefahr einzusetzen.

Der Rechtsstaat muss neue Wege gehen, um auf die neuen Bedrohungen vorbereitet zu sein. Auch in Grenzsituationen muss er sagen können, wer entscheidungsbefugt ist. Eine verfassungsrechtliche Ordnung darf diese Antwort nicht verweigern, wenn sie sich nicht selbst aufgeben will. Denn ohne einen wehrhaften Rechtsstaat gibt es keine Menschenwürdegarantie.

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