zum Hauptinhalt

Meinung: Von Märkten und Menschen

Die Gewerkschaften suchen nach ihrer Rolle in der globalisierten Wirtschaft. Es ist die alte: die Bewahrung der Würde

Bis zur Zeitenwende von 1989 haben die deutschen Gewerkschaften bei Anhängern und Gegnern eine hohe Achtung genossen. Das hat sich in den letzten 15 Jahren geändert. Vielfach wird ihnen heute vorgeworfen, sie seien zu konservativen Organisationen erstarrt, interessierten sich nur noch für jene, die Arbeit haben und hinderten durch das Beharren auf Privilegien der Arbeitnehmer die Wirtschaft daran, im globalen Wettbewerb zu bestehen.

Innerhalb der Gewerkschaften sind in der letzten Dekade einerseits erhebliche Selbstzweifel entstanden und andererseits trotzige Reaktionen gewachsen, die versuchen, das Erreichte starr zu verteidigen, um zu retten, was zu retten ist. Die Gewerkschaften fürchten ins Abseits zu driften. In der Tat bläst ihnen der wirtschaftliche und soziale Wind seit Jahren ins Gesicht. Geringe Wachstumsraten, hohe Arbeitslosigkeit, Mitgliederschwund, das Abschmelzen der Milieubindungen und die zunehmende Individualisierung der Interessen, die Zunahme des Dienstleistungssektors, wo die Gewerkschaften schwer Fuß fassen können und – ganz überragend – die Globalisierung der Wirtschaft, die dem Nationalstaat als Partner der gewerkschaftlichen Politik den Handlungsspielraum nimmt, all dies rührt mehr und mehr an den Lebensnerv der Gewerkschaften.

Parallel dazu dominiert seit Jahren in der Öffentlichkeit eine neoliberale Angebotstheorie, die sich weitgehend von der auf staatliche Regelung setzenden sozialen Marktwirtschaft verabschiedet hat und die Gewerkschaften als überflüssige Störenfriede betrachtet, sie allenfalls für Lohnverzicht lobt. Sollten wir die Gewerkschaften nicht lieber eingehen lassen?

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ So lautet der erste Artikel unseres Grundgesetzes. Er bringt den obersten Wert der freiheitlichen Demokratie zum Ausdruck. Aber diese Würde wird in der Praxis vielfach angetastet. Immer dort, wo der konkrete Mensch zum bloßen Mittel herabgewürdigt wird, müsste der Staat ihn eigentlich davor bewahren. Das gilt auch für die Wirtschaft.

In einer kapitalistischen Marktwirtschaft, zu der ich grundsätzlich keine Alternative sehe, fungiert der Mensch jedoch als bloßes Produktionsmittel, dessen Kosten man betriebswirtschaftlich rechnen muss. So stehen im Liberalismus die politische Logik der Würde und die wirtschaftliche Logik des Produktionsinstruments sowohl in einem gegenseitigen Ergänzungs- als auch in einem prinzipiellen Spannungsverhältnis zueinander. Diese grundsätzliche Paradoxie ist es, die die Gewerkschaften historisch hervorgebracht hat und die sie, wenn es uns wirklich um Demokratie und Menschenwürde geht, auch in Zukunft unverzichtbar macht. Denn dieser Widerspruch kann nicht prinzipiell überwunden werden – das war der totalitäre Irrtum des Kommunismus. Es bleibt nur, sie als „dauernde Aufgabe“ so zu regeln, dass weder die politische Logik der menschlichen Würde noch die ökonomische Logik der Mitteleffizienz auf der Strecke bleiben.

Ohne Zweifel ist das Grundgesetz in der Kategorie des Nationalstaates gedacht, ebenso wie die Gewerkschaften historisch in diesem Rahmen gehandelt haben. Dabei kam ihnen das grundlegende Verdienst zu, die Arbeitnehmer für die Demokratie gewonnen und sie durch die Mitbestimmung in die Gesellschaft integriert zu haben. Ohne sie wäre die westdeutsche Bundesrepublik nicht zur Erfolgsgeschichte geworden. Die Gewerkschaften haben zu den nicht so zahlreichen deutschen Institutionen gehört, die im Nationalsozialismus ihre Integrität bewahrt haben. Sie konnten deshalb mit ihrem Vertrauenskapital, anders als viele im Nationalsozialismus diskreditierte Unternehmer, erreichen, dass die Alliierten nach dem Krieg nicht alles demontieren ließen und dass – jedenfalls Westdeutschland – auch wirtschaftlich relativ schnell wieder auf die Beine kam.

Seit dem Ende des Ost-Wests-Konflikts hat sich der Prozess der Globalisierung so beschleunigt und radikalisiert, dass die bisher von den Gewerkschaften im Rahmen des Nationalstaats praktizierte Balance zwischen Gemeinwohl und Partikularinteresse und damit ihre Schutzfunktion für die Arbeitnehmer radikal infragegestellt ist. Ideologisch machen dieser Balance zur Zeit zwei Positionen den Garaus: die eine behauptet, der Markt allein erreiche, wenn man ihn nur ohne hemmende Regulierungen wirken lasse, das bestmögliche wirtschaftliche Ergebnis. Die andere bestreitet überhaupt, dass es im globalen ökonomischen Wettbewerb noch einen politischen Handlungsspielraum gibt.

Beide Positionen kümmern sich nicht ausdrücklich um die Frage, wie es denn dabei mit der Würde des Menschen bestellt sei. Sie sehen sich ausschließlich verantwortlich für die Effizienz des Wirtschaftssektors und verweisen die Verteidigung der menschlichen Würde als Aufgabe an die Politik. Für die sind sie konstruktiv nicht zuständig, kritisch abweisend allerdings schon in dem Sinne, dass sie sich gegen möglichst alle so genannten politischen Fesseln ihres wirtschaftlichen Handelns wehren. Und wenn es geht auch gegen das Zahlen von Steuern.

Da für die Gewerkschaften aber – wie eigentlich für alle Bürger – die Würde des Menschen eine zentrale Herausforderung bleibt, entsteht faktisch ein Graben zwischen Politik und Wirtschaft, in dem die Legitimation der Demokratie und ihre Verankerung im Denken und Fühlen der Menschen verloren zu gehen drohen. Vertieft wird dieser durch die zunehmend asymmetrische Machtverteilung zwischen den international schnell und flexibel agierenden Kapitaleignern einerseits und den ortsgebundenen abhängig Beschäftigten andererseits, die ihr traditionell wichtigstes Sanktionsinstrument, den Streik, wegen der hohen Arbeitslosigkeit gegenwärtig praktisch nicht einsetzen können.

In dieser Situation liegt die überaus schwierige, aber auch chancenreiche Aufgabe der Gewerkschaften für die Zukunft darin, die Kompetenz, die sie in ihrer Geschichte vielfach bewiesen haben: nämlich praktisch-politisch weitsichtig immer wieder zwischen Partikularinteressen und Gemeinwohl zu vermitteln, auch angesichts der neuen globalen Wettbewerbsbedingungen fantasievoll fortzuentwickeln und die Arbeitgeber in diese Balance einzubeziehen. Das mag angesichts des gegenwärtigen Machtungleichgewichts illusionär klingen. Aber die alte Hegelsche Idee des Verhältnisses von Herr und Knecht, nach der der Herr zwar genauso vom System unterdrückt wird wie der Knecht, dies aber wegen der vordergründigen Annehmlichkeit seiner Situation nicht durchschaut, könnte sich erneut als aktuell erweisen ebenso wie die Einsicht von Karl Deutsch, der mit der Ohnmachtserfahrung des jüdischen Emigranten später als Harvard-Professor Macht sinngemäß als die Möglichkeit definiert hat, nicht lernen zu müssen, weil man sich auch ohne Intelligenz durchsetzen kann. Die Gewerkschaften dagegen mussten immer und müssen nun erneut lernen, weil sie im gesellschaftlichen Machtgleichgewicht zur Zeit eher schwach sind. Und sie haben auf diese Weise die Chance, sich auf längere Sicht denen als überlegen zu erweisen, die glauben, nicht lernen zu müssen.

Die Gewerkschaften haben durchaus die Chance, weitere Verbündete in der Gesellschaft zu finden, wenn sie mit undogmatischen Vorschlägen auf unvermeidbare neue Entwicklungen der ökonomischen Globalisierung eingehen. Seit Jahren können wir erkennen, dass demokratische Politik um der Würde des Menschen willen von der kommunalen bis zur globalen Ebene zunehmend auf eine „Good Governance“ angewiesen ist, in der die traditionell demokratisch legitimierten Parlamente und Regierungen mit Wirtschaftsunternehmen und zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammenarbeiten und auf diese Weise zu flexiblen und glaubwürdigen Lösungen gelangen. Die Gewerkschaften können dabei von ihrem Menschen- und Gesellschaftsbild her und mit ihren konkreten Erfahrungen in der Wirtschaft ein besonders dynamischer und kenntnisreicher Partner sein.

Das deutsche Gewerkschafts- und Mitbestimmungssystem beruhte historisch auf dem Prinzip der „antagonistischen Kooperation“, die Gegnerschaft und Zusammenarbeit auch institutionell zusammenführte. Gewerkschaftliche Tarifpolitik markierte das antagonistische, die Betriebsräte das kooperative, auf die Friedenspflicht ausgerichtete Element. Verbunden waren beide unter anderem über das System der gewerkschaftlichen Vertrauensleute. Auch auf der Ebene der Unternehmensmitbestimmung hatte sich in Deutschland ein System von Interessengegensatz und Kooperation herausgebildet, das die Wettbewerbsposition deutscher Unternehmen durchaus stärkte. Eine von den Gewerkschaften bereits erkannte Aufgabe wird es in Zukunft sein, für internationale Unternehmen angemessene Repräsentationsformen zu finden, die die Vertretung nichtdeutscher Arbeitnehmer einbeziehen und mit nichtdeutschem Recht zu vereinbaren sind.

Mit der Internationalisierung der Unternehmen und ihrer Tätigkeit im globalen Wettbewerb steigert sich die Notwendigkeit der Flexibilisierung und Dezentralisierung von Strukturen und Entscheidungen. Dies ist auch einer der Gründe für die so genannte Verbetrieblichung von Lohnvereinbarungen, die sich europaweit vollzieht und den Flächentarifvertrag unterhöhlt. Die Europäischen Betriebsräte sind eine der Antworten auf diese Entwicklung. Sie erfahren durch die Dezentralisierung der Tarifpolitik eine latente Aufwertung. Die Interessen der Arbeitnehmer können sie vor allem dann unterstützen, wenn die nationalen Gewerkschaften eine europäische Tarifpolitik zu einer dauerhaft wichtigen Agenda machen.

Bei den Europäischen Betriebsräten schneiden sich gleichsam die beiden epochalen Trends der Globalisierung und der „Verbetrieblichung“. Sie stellen die Gewerkschaften vor die zentrale Herausforderung, ihre Politik und ihre Strukturen zu europäisieren und tendenziell zu globalisieren.

Die Europäische Union wird in dem Maße zu einer demokratischen und sozialen Erfolgsgeschichte werden, wie es den Gewerkschaften gelingt, eine gemeinsame europäische Entwicklungsstrategie zu entwerfen, die nationale Interessen (zum Beispiel hinsichtlich von Steuer- und Lohnpolitik) mit langfristigen Sicherheitsinteressen aller europäischen Arbeitnehmer zu vermitteln vermag. Sie würden in der EU dann das leisten, wofür sie sich im demokratischen Nationalstaat verdient gemacht haben: die Integration der sozial Schwachen in die demokratische Politik.

Der Schlüssel zu einer solchen Modernisierung der Gewerkschaften liegt vermutlich in der verstärkten Konzentration auf technologische, ökonomische und soziale Innovationen als Quelle von Wertschöpfung, also in einem Perspektivwechsel von der vorrangigen Erhaltung des Bestehenden hin zur möglichen Vorwegnahme marktnaher und zugleich gemeinwohlverträglicher Zukunftsentwicklungen. In weltweit agierenden Großunternehmen haben sie daran ein eigenständigeres Interesse als die Kapitalgeber. Hier ist auch der Ort fruchtbarer Kooperationen mit der Zivilgesellschaft.

Wir leben in einer Welt, die sich immerfort wandelt und in der gemeinsames Handeln auf die freiwillige Zustimmung der Handelnden angewiesen ist. Aussicht auf dauerhaften Bestand haben dabei nur gemeinsame grundlegende Werte. Die Würde des Menschen ist der Wert, dessen Dauerhaftigkeit als Wunsch aller Menschen jedenfalls für sich, aber auch für die anderen und als Grundlage der Zusammenarbeit besonders verlässlich ist. Ohne den Glauben daran, dass die Menschen bei aller Begrenztheit und bei allem Egoismus doch auch genügend Fähigkeit zu konstruktiver Zusammenarbeit haben, wird es uns schwer fallen, den notwendigen Impetus für die Zukunft aufzubringen.

Die Gewerkschaften haben eben diesen Glauben an den Menschen in ihrer bisherigen Geschichte eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Dies ist das beste Unterpfand für ihre und für unsere gemeinsame demokratische Zukunft, auch unter den Bedingungen der Globalisierung.

Gesine Schwan

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false