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Vor dem Verfassungsreferendum: Fehlendes Grundvertrauen in der Türkei

Fast 50 Millionen türkische Wähler stimmen am Sonntag über eine Verfassungsreform ab, wie sie ihr Land noch nicht gesehen hat. Doch das Referendum wird das Hauptproblem Ankaras nicht lösen.

Von Behindertenrechten bis zu den Militärs, vom Ombudsmann bis zur Neuordnung des Verfassungsgerichts – an 26 Stellen will Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan den derzeitigen Verfassungstext, eine Hinterlassenschaft des Militärputsches von 1980, ausbessern. Während Erdogan von notwendigen Reformen für den EU-Beitritt des Landes spricht, malt die Opposition das Schreckgespenst einer islamistischen Machtergreifung an die Wand, das Votum wird zur Generalabrechnung mit der Regierung. Das verfassungspolitische Hauptproblem in Ankara wird aber am Sonntag nicht gelöst werden, ob die Reform nun von den Wählern angenommen wird oder nicht.

Dieses Hauptproblem besteht in der Verfassung selbst. So viel die Politiker auch an den 177 Artikeln herumbasteln mögen: Eine wirklich demokratische Grundlage für eine moderne und weltoffene Republik wird nicht daraus. Die Generäle ließen 1982 die Verfassung zwar demokratisch bemänteln und absegnen – beim damaligen Referendum unter der Militärherrschaft trauten sich allerdings nur wenige Türken, mit Nein zu stimmen. Für die Militärs ging es vor allem darum, ihre eigene Herrschaft zu rechtfertigen und der Demokratie für die Zukunft enge Fesseln anzulegen.

Nun ist das alles lange her. Die Türkei von heute ist ein EU-Bewerberland mit einer frei gewählten Regierung, das in den vergangenen Jahren trotz des engen Verfassungskorsetts große Fortschritte gemacht hat. Doch der in einer Demokratie nötige politische Streit im Parlament und die ebenfalls unabdingbare gegenseitige Kontrolle der Staatsorgane funktionieren nicht richtig, denn all dies findet auf der Grundlage einer undemokratischen Verfassung statt.

Wenn in Deutschland im Parlament gestritten wird, oder das Verfassungsgericht der Regierung in die Parade fährt, dann geschieht das vor dem Hintergrund eines breiten Konsenses, der im demokratischen Rahmen des Grundgesetzes besteht. In der Türkei fehlt dieses Grundvertrauen. Hier hat die Verfassung vor allem die Aufgabe, den Staat vor dem Bürger zu schützen – und sogar vor der gewählten Regierung. So können sich Vertreter der hohen Justiz und die Militärs in die Pose der unangreifbaren Kämpfer für den „Staat“ werfen, wenn sie Vorstöße der Regierung verdammen. Gegner demokratischer Forderungen haben in der Türkei automatisch die Verfassung hinter sich – denn diese misstraut der Demokratie.

Nicht nur für die Regierung hat das unangenehme Folgen. Weil in Deutschland das Grundgesetz zum Beispiel die Meinungsfreiheit als eines der höchsten Güter einstuft, muss viel geschehen, bevor unbotmäßige Äußerungen bestraft werden. In der Türkei werden Meinungsäußerungen dagegen immer noch relativ häufig verfolgt, weil sich die meisten Richter und Staatsanwälte als Verteidiger des Staates gegen den Einzelnen betrachten. Deshalb braucht die Türkei eine ganz neue Verfassung, keine Reparaturen. Das ist den meisten Akteuren in Ankara auch klar, nur können sie sich nicht auf einen gemeinsamen Ansatz einigen. Daran ist nicht nur Erdogan schuld, dem Kritiker vorwerfen, er wolle alles im Staat selber bestimmen. Die säkulare Opposition in Ankara handelt unverantwortlich, indem sie seit Jahren alle Versuche blockiert, gemeinsam mit Erdogan nötige Reformen auf den Weg zu bringen.

In der türkischen Zivilgesellschaft ist man schon weiter. Dort gibt es inzwischen viele Denkanstöße für eine wirkliche Verfassungsreform. So wird über die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung nachgedacht, die parallel zum Parlament tagen und das neue Grundgesetz ausarbeiten könnte. Offen ist, ob diese Impulse von der Politik aufgenommen und umgesetzt werden, ob die großen Parteien sich zusammenraufen können, oder ob doch wieder jemand die undemokratischen Hüter der Putschverfassung zur Hilfe gegen die Reformer ruft. Die Antworten auf diese Fragen werden für die Türkei auf lange Sicht wichtiger sein als das Ergebnis der Volksabstimmung an diesem Sonntag.

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