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Noch nicht lesen können, aber schon wählen wollen.

© dpa

Wahlbeteiligung und Demokratie: Mehr Wettbewerb wagen!

Die deutschen Parteien fürchten den Wettbewerb um die besten Köpfe. Dabei ließe sich die Wahlbeteiligung erhöhen, wenn die Parteien mehr Mut zeigten. Offene Vorwahlen etwa sind transparenter und demokratischer als andere Instrumente der Kandidatenkür. Ein Gastbeitrag.

In den letzten 30 Jahren ist die Beteiligung an Bundestagswahlen von knapp 90 auf zuletzt gut 70 Prozent gesunken. Grund zur Besorgnis oder eher Folge von Normalisierung? Zum Vergleich: In England, das historisch zu den klassischen Demokratien gehört, lag die Wahlbeteiligung zuletzt bei 65 Prozent, ähnlich wie in Frankreich. In den USA liegt sie seit Jahrzehnten unter 60 Prozent. Deutschland steht somit gar nicht so schlecht da, wenn es um die Wahl des nationalen Parlaments geht. Und auch bei Landtagswahlen lagen die Ergebnisse in den westlichen Bundesländern mit zuletzt zwischen 60 und 65 Prozent im europäischen Schnitt. Allein im Osten der Republik ist die Wahlbeteiligung auf bis zu 47 Prozent wie in diesem Jahr in Brandenburg gesunken. Ähnlich niedrig fielen die Ergebnisse in Osteuropa bei der Europawahl 2014 aus.

Die Generalsekretärin der SPD Yasmin Fahimi will sich mit dem Trend der sinkenden Wahlbeteiligung nicht abfinden und hat zwischen den Jahren einen neuen Vorschlag in die Debatte gebracht. Wie in Schweden soll auch in Deutschland nicht nur an einem Tag gewählt werden, sondern über eine Woche. Zudem sollen die Bürger möglichst überall und nicht nur an seinem Wohnort wählen dürfen. Eine „mobile Wahlkabine“ fährt übers Land, um die restlichen Wahlmüden einzusammeln. Aus bequemen Gelegenheitswählern sollen Wahlbeteiligte werden. Dabei können die Bundesbürger längst vor dem eigentlichen Wahltermin ihre Stimme abgeben. Die Briefwahl erfreut sich wachsender Beliebtheit. Jeder Vierte wählte bei der letzten Europawahl auf dem Postweg. In den alten Bundesländern nutzen das Instrument der Briefwahl deutlich mehr Bürger als in den neuen Bundesländern. Bei einer Bundestagswahl sind es ebenfalls mehr Wähler als bei einer Landtagswahl, die per Brief wählen gehen.

Der Vorschlag einer „Wahlwoche“ ist gut gemeint, greift aber zu kurz. Er beantwortet allein die technische Frage, wie sich die Wahlbeteiligung erhöhen lässt, nicht aber die politische Frage, warum sich die Bürger mehr an einer Wahl beteiligen sollen. Im Unterschied zu vielen anderen Demokratien wählen die Deutschen in erster Linie Parteien und nicht Personen. Das „personalisierte Verhältniswahlrecht“, eine Kombination aus Personen- und Parteienwahl,  ist eine deutsche Besonderheit. „Auf den Kanzler kommt es an“ - weil es auf Bundesebene stärker um den Wettbewerb der Kandidaten geht, fällt hier die Beteiligung wesentlich höher aus.

In den internationalen Rankings zum Thema Glück gehört die Schweiz zur Spitzengruppe

Wer sich mit dem Trend einer sinkenden Wahlbeteiligung nicht abfinden will, muss andere Wege gehen und direkte Möglichkeiten durch die Wähler ermöglichen. So stimmen in den USA nicht nur seine Partei, sondern alle Wahlberechtigten über den Kandidaten ab. Davon haben beide Seiten etwas, Wähler wie Parteien. Die Wähler interessieren sich bereits im Vorfeld einer Wahl für die Kampagne und das Personal und die Parteien können anschließend das Engagement und die Mobilisierung der Wähler während der Vorwahl für die spätere Kampagne und eigentliche Wahl nutzen. „Offene Vorwahlen“ sind transparenter und demokratischer als andere Instrumente der Kandidatenkür. Die deutschen Parteien fürchten den Wettbewerb um die besten Köpfe. Warum eigentlich? Mehr Wettbewerb nicht nur beim Personal, sondern auch bei den Inhalten würde der deutschen Demokratie gut tun. Instrumente der direkten Demokratie wie Abstimmungen und Referenden erhöhen die Zufriedenheit der Regierten mit den Regierenden und senken die Staatsverschuldung. In der Schweiz haben Kantone (Länder) mit mehr Beteiligungsmöglichkeiten ein höheres Pro-Kopf-Einkommen. Elemente direkter Demokratie steigern auch das subjektive Glücksempfinden und die Lebenszufriedenheit der Bürger, wie eine Langzeitstudie aus der Schweiz zeigt. In den internationalen Rankings zum Thema Glück gehört die Schweiz zur Spitzengruppe, Deutschland liegt dagegen nur im Mittelfeld.

Mehr Wettbewerb bei den Instrumenten wie bei den Inhalten führt zu mehr Beteiligung, Zufriedenheit und Lebensqualität. Die Große Koalition startet demnächst einen neuen Bürgerdialog unter der Überschrift „Gut leben – Lebensqualität in Deutschland“ und will herausfinden, was die Bürger wirklich bewegt. Statt mehr Demokratie werden wir eine neue Form der Demoskopie erleben. Schade.

- Daniel Dettling ist Gründer des Instituts für Zukunftspolitik (www.zukunftspolitik.de). Zuletzt erschien von ihm „Wie wollen wir in Zukunft leben? Eine Agenda für die Neo-Republik“, Edition Lingen 2014.

Daniel Dettling

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