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Meinung: Wahlen, zum Glück

Kabul, Bagdad, Ramallah, Kiew – die Demokraten kommen. Ein Grund für Euphorie

Ein Gefühl ist verschwunden. Es verursachte Freude, ein Kribbeln, Gänsehaut. Die Menschen wirkten glücklich, stammelten „Wahnsinn“. Das Gefühl trieb sie an, ließ sie hoffen. Nun ist es weg. Vielleicht hat es sich aufgebraucht. Freiheit, Demokratie – das seien nur Worte, heißt es heute. Wir sind skeptisch geworden. Das Erhabene stößt uns ab. Auf Pathos reagieren wir mit Griesgrämigkeit. Was Romantiker über die Liebe sagen – lieber zehnmal von ihr enttäuscht werden, als einmal den Glauben an sie zu verlieren –, halten wir für naiv. Unser Motto lautet: Das klappt nie.

Als der Sowjetkommunismus besiegt wurde und die Mauer fiel, herrschte Überschwang. Plötzlich waren Millionen Menschen frei und konnten über ihr Schicksal und ihre Machthaber selbst bestimmen. Die Demokratie breitete sich aus. Erst in Ostdeutschland, Polen, Tschechien und Ungarn, mit größeren Geburtswehen in Rumänien, Bulgarien, Albanien, schließlich in Serbien, Georgien, Russland und der Ukraine. Perfekt ist sie nirgends. Zäh kämpfen Altkommunisten im Verbund mit Neunationalisten für andere Ideale. Und Wladimir Putins Praktiken unterscheiden sich kaum noch von jenen, mit denen Pinochet, Milosevic und Castro hantierten.

Doch die Entwicklung ist irreversibel. Wo der Funke der Demokratie entfacht wurde, lässt er sich nie mehr ganz löschen. Der Prozess mag Rückschläge erleiden: Nichts hält ihn endgültig auf. Das haben die Bilder aus der Ukraine bewiesen. Plötzlich begehrte ein Volk, das jahrzehntelang klaglos Drangsal, Gängelung und Korruption erlitten hatte, auf. Für einen kurzen Moment war in Europa wieder jenes Kribbeln zu spüren, die Gänsehaut des Glücks.

Doch warum nicht mehr? Vor gut einer Woche geschah das afghanische Wunder. Als erster frei gewählter Präsident seines Landes wurde Hamid Karsai vereidigt. Dabei galt Afghanistan als unregierbar. Von den Sowjets zerstört, in Bürgerkriegen aufgerieben, von den Taliban zur Terrorhochburg ausgebaut: Und nun ist selbst dort die Demokratie eingezogen! Zehn Millionen Afghanen ließen sich registrieren, ungefähr 80 Prozent gingen an die Wahlurnen. Sicher: Karsai kontrolliert nicht das gesamte Land, und der Drogenhandel ist ein Problem. Ein Wunder hat sich dennoch ereignet.

Anfang Januar wählen die Palästinenser. Sie waren das erste arabische Volk, das sich auf den Pfad der Demokratie begab. Drei Wochen später folgen die Iraker. Vorgestern wurde dort offiziell das Wahlkampf eingeleitet. Das Unternehmen mutet gigantisch an. Die Nachrichten des Alltags werden von Chaos, Gewalt und Attentaten dominiert. Die USA verstärken ihre Truppenpräsenz. Werden die Sunniten die Wahl boykottieren? Reißen die Schiiten die Macht an sich? Kommt es zum Bürgerkrieg? All das ist möglich – und trotzdem sollten wir uns das freudige, hoffnungsfrohe Staunen nicht ganz austreiben lassen. Hunderte Millionen Araber werden die Wahl beobachten und einige davon sich anschließend fragen: Warum nicht bei uns? Freiheit steckt an.

Das klappt nie: Viele Pessimisten tarnen sich gern als Realisten. Was ihre Haltung zum Irak motiviert, ist jedoch eine Mischung aus Kalkül und Ressentiment: Weil der Krieg falsch war, soll auch die Wahl zum Debakel werden. Sie befürchten, dass die gute Folge von etwas Bösem das Böse nachträglich gut macht. Solcher Räsoneure gibt’s leider zu viel. Sie haben ein Gefühl erstickt, auf das Europäer nach 1989 stolz sein konnten. Afghanistan ist nicht die Ukraine, die Ukraine nicht Palästina, Palästina nicht der Irak. Was in Kiew bloß ein Hügel, ist in Bagdad ein Gebirge von Problemen. Doch ein leise gemurmeltes „Wahnsinn“ sollte erlaubt sein – und ein Quentchen mehr Euphorie.

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