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Meinung: Wandel durch Überrumpelung

Die große Koalition einigt sich auf ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ – und brüskiert Polen

In der Diplomatie würde man von einem „unfreundlichen Akt“ sprechen, den Union und SPD derzeit im deutsch-polnischen Theater um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ aufführen. Mitten ins Vakuum der polnischen Innenpolitik nach den Wahlen am Wochenende – Premier Jaroslav Kaczynski räumt gerade seinen Schreibtisch, Nachfolger Donald Tusk wird frühestens am 5. November gewählt – verkünden die Großkoalitionäre nun eine Einigung über das umstrittene „Zentrum gegen Vertreibungen“. Das ist überraschend. Und ein Bluff.

Einer der großen Lehrer der internationalen Diplomatie, der US-Diplomat Charles Iklé, nennt in seinem Werk „Strategie und Taktik des diplomatischen Verhaltens“ den Bluff ein „Begleitmanöver einer laufenden Verhandlung“ – und eine „selbstständige Maßnahme des Drucks, um den Gegner verhandlungsbereit zu machen“. Ob es sich, schreibt er weiter, in Fällen dieser Art „um einen von vornherein beabsichtigten Bluff oder nur um den durch spätere Umstände bewirkten Wegfall des Willens oder der Fähigkeit, die Drohung auszuführen“ handelt, klärt sich oft erst später.

Fest steht nur eines: Die Bundesregierung ist mit dem Feinschliff an dem in Warschau höchst umstrittenen „Zentrum“ noch lange nicht fertig, auch wenn Wolfgang Thierse das so darstellt. Vor allem die Frage, wie der Bund der Vertriebenen an der Gedenkstätte für Flucht und Vertreibung beteiligt werden soll, ist offen – auch hier blufft der Bundestagsvizepräsident, wenn er anderes behauptet.

Thierses nur mit dem Kanzleramt, nicht aber mit der eigenen Fraktion und erst recht nicht mit Polen abgestimmtes Vorpreschen soll Fakten schaffen, die niemand mehr ignorieren kann – und das ist gar keine so dumme Idee.

Warschau hat die Arbeiten an einer europäischen Gedenkkonzeption seit Jahren boykottiert. Jetzt, da die polnische Innenpolitik ganz mit sich selbst beschäftigt ist, kommt der deutsche Vorstoß zu einer günstigen Zeit. Warschau kann sich nach der Regierungsbildung entscheiden, ob es weiterhin den Buhmann spielen und Deutschland ein Umschreiben der Geschichte vorwerfen will – oder ob es sich in die inhaltliche Konzeption des neuen „Zentrums“, das um die viel gelobte Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ des Bonner Hauses der Geschichte gestrickt werden soll, selbst aktiv einbringen will. Auch um den Preis, mit einem Vertreter des Vertriebenenbundes BdV an einem Tisch zu sitzen.

Das Gedenken an das erlittene Leid von Millionen Menschen, die für den Aufbau der Bundesrepublik nach dem Krieg Bemerkenswertes geleistet haben, ist eine gesamtstaatliche und eine europäische Aufgabe, die auch die Ursachen dieses Leidens stets im Auge haben muss. Gut deshalb, dass das bundeseigene Deutsche Historische Museum die Aufsicht über das Projekt bekommt. BdV-Chefin Erika Steinbach soll sich ruhig einbringen – wenn sie klug ist, nicht mit ihrer eigenen Person, sondern in Form eines in den Beirat entsandten Experten. So wie auch Polen und Tschechien, die sich nach Thierses Ankündigung jetzt erst einmal berappeln müssen.

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