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Meinung: Was Hartmut von Hentig damit zu tun hat

Lieber Hartmut von Hentig, im Tagesspiegel vom 25. März 2010 versuchst Du eine Beantwortung der massiven Vorwürfe an Deine Person als „Mitwisser“ und „Leugner“ von sexuellem Missbrauch an der Odenwaldschule.

Lieber Hartmut von Hentig, im Tagesspiegel vom 25. März 2010 versuchst Du eine Beantwortung der massiven Vorwürfe an Deine Person als „Mitwisser“ und „Leugner“ von sexuellem Missbrauch an der Odenwaldschule. Dein Text unter der rhetorischen Frage „Was habe ich damit zu tun?“ wird in der weiter auch sehr emotional geführten Debatte von nicht wenigen eher als Abwiegelung und nicht als Antwort darauf verstanden werden, wo Du durchaus bereit bist, Verantwortung zu übernehmen.

In sechs Monaten ist Dein 85. Geburtstag. Uns trennen ziemlich genau 30 Jahre Lebensalter. Als ich Dir zum ersten Mal begegnete, warst Du jünger als ich heute. Es war auf dem Parkplatz der Bielefelder Laborschule: Ich war 1977 als Lehrerstudent von 22 Jahren zu einem Interview mit Dir für mein erstes Buch „Alternativschulen“ von Hamburg nach Bielefeld gefahren. Das Interview kam nicht zustande, weil Deine Sekretärin die Termine verwechselt hatte – und Du darauf beharrtest, Deine Zusage gegenüber Schülern, die mit Dir einen Schulgarten anlegen wollten, nicht zu verschieben. Dann nahmst Du mehrere große Blumentöpfe aus dem Kofferraum Deines Autos unter den Arm und ließest mich stehen. Gut: die Kinder ernstnehmen. Wichtiger als alles andere.

„Die Menschen stärken – die Sachen klären“: dein Klassiker aus dem Jahr 1985. Zu der Zeit korrespondierten wir bereits regelmäßig, natürlich noch in der höflichen Anrede des „Sie“. Was für ein kluger und differenzierter Text, eine Ermutigung für ganze Generationen junger Pädagoginnen und Pädagogen. Basierend auf einem Vortrag, den Du zum zehnjährigen Bestehen der von Dir gegründeten Laborschule und des Oberstufenkollegs gehalten hast. Und kritisch gegenüber Dir selbst und den Lernzielen, die Du 1968 – da warst Du gerade 43 – für den Deutschen Bildungsrat entwickelt hattest. Als Einleitung zu den dreizehn Lernbedingungen von 1985 schriebst Du:

„Uns bleibt, in der weitgehend vom Menschen gemachten, in der nunmehr vom Menschen zerstörbaren, in der einen Welt nur eines: die Bemühung um und die Hoffnung auf Zustimmung für die (sie verändernden) Taten, die (ihr zu setzenden) Ziele, die (ihr unterstellten) Deutungen. Zustimmung fordert Verstehen, Gemeinsamkeit der Erkenntnis, Gemeinverständlichkeit der Sprache.“

Unter der Lernbedingung „Mit Ungleichheit leben“ formuliertest Du, was als Basis interkulturellen Lernens, ja, als Bedingung für friedliches Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft bis heute gilt: Nämlich dass Kinder erfahren können, „verschieden und doch wichtig (zu sein), in der Minderheit und doch nicht im Abseits, in der Mehrheit und doch nicht die Norm zu sein“. Deine letzte, die dreizehnte Lernbedingung, lautete: „Kinder in Ruhe zu lassen – eher weniger tun als mehr.“

Als ich Dich das erste Mal in dem einsam von Dir bewohnten, umgebauten Bauernhof bei Bielefeld besuchte, kam ich abends im Schneesturm an. Der Taxifahrer, der mich vom Bahnhof zu Dir brachte, sagte beinah stolz: „Zum Professor – kein Problem, den Weg kenne ich.“ Wir diskutierten über das gemeinsame Engagement in der Friedensbewegung, Deine Teilnahme bei der Raketen-Blockade in Bremerhaven. Ich konnte Dich nicht zum Auftritt auf einem unserer bundesweiten Pädagogen-Friedenskongresse bewegen. Als ich am frühen Morgen im Gästezimmer aufwachte – es war noch dunkel –, warst Du schon zum Waldlauf unterwegs. Mit keinem Wort hatten wir es erwähnt: Dass es noch etwas anderes gab, das wir gemeinsam haben. Die sexuelle Orientierung. Es schien uns nicht wichtig. Damals.

Anfang der 1990er Jahre zog ich nach Amsterdam, um dort als Mitarbeiter der Anne-Frank-Stiftung meine Suche nach friedlichen Formen des Zusammenlebens in von Fremdenhass und Gewalt erschütterten Gesellschaften fortzusetzen. Unvergessen ist mir unsere Radtour zu zweit durch die Grachtenstadt auf den Spuren Deiner Kindheit, als Dein Vater Mitte der 1930er Jahre hier als deutscher Diplomat tätig war. Einige Zeit später kamst Du mit Deinem Freund Gerold Becker zu uns zu einem kurzen Besuch.

Als mein Buch „Verdammt starke Liebe“ im Rowohlt Verlag 1991 erschien (bis heute weltweit das einzige Buch für Jugendliche, das die Verfolgung Homosexueller in der NS-Zeit anhand einer wahren Geschichte erzählt), schriebst Du mir: „Ein wichtiges, ein wertvolles Buch in einer klaren Sprache und doch eines, das ich nur wenigen ausgewählten Freunden schenken werde.“ Die Hauptperson des Buches, der Pole Stefan Kosinski, war mit 17 Jahren von der deutschen SS als Homosexueller gefoltert und eingesperrt worden. Jahrgang 1925 wie Du. Ab dann begannen wir, darüber zu kommunizieren. Über Sexualität. Über das Gemeinsame und Trennende in den Erfahrungen unserer Sexualität. Die dreißig Jahre Altersunterschied – hier wurden sie zu Jahrhunderten.

Als Du jung warst, wurden Homosexuelle als „Volksschädlinge“ gesetzlich verfolgt, später auch in Konzentrationslagern ermordet. Als ich jung war, begannen wir uns zu wehren. Auf meiner ersten Demonstration mit anderen jungen Lesben und Schwulen in Hamburg wurde uns noch zugerufen: „Perverse! Vergast sie!“ Unvorstellbar damals (vor nur 30 Jahren!), dass ein Politiker sich „outen“ würde. Aber unsere Hoffnung, dass die Diskriminierung ein Ende finden kann, war jung, aufbegehrend und noch unbeschädigt.

Als vor gut einem Jahrzehnt erste Vorwürfe ehemaliger Schüler wegen sexuellem Missbrauch gegenüber Gerold Becker öffentlich wurden, fragte ich besorgt nach. Du hast damals alle Beschuldigungen kategorisch zurückgewiesen und ich konnte keine überzeugenden Gründe finden, Deinem Urteil zu misstrauen, zumal auch von der Schule selbst widersprüchliche Aussagen kamen. Es schien mir, als habe es da auch Grenzen in Eurer Kommunikation miteinander gegeben. Aus Achtung? Aus Verdrängung? Aus Angst? Eine bewusste Komplizenschaft war mir nicht vorstellbar.

Über die Jahre haben wir einander die jeweils eigenen, neu erschienenen Bücher zugesandt. Mit Spannung wartete ich in Kapstadt, wo ich seit 2002 ein Haus für von HIV/Aids betroffene Kinder und Jugendliche in einem Team südafrikanischer Kolleginnen und Kollegen leite, auf Deine zweibändige Autobiografie „Mein Leben – bedacht und bejaht“ (2007). Ich fand darin eine der schönsten Definitionen von Liebe: „Man liebt, was man versteht, was der Liebe bedarf, was leidet und nicht zu leiden verdient, was ungewöhnlich und stark zugleich ist – und uns vertraut und menschlich.“

Und auch eine Enttäuschung: Mit keinem Wort erwähnst Du Deine Homosexualität. Auf der gleichen Seite gibst Du einen einzigen Hinweis: „Liebe darf man empfinden; ob man sie öffentlich bekennen soll, muss man sehr genau prüfen." Deine Prüfung blieb negativ. Eine zementierte Lebenserfahrung: Dass die Zugehörigkeit zu einer sexuellen Minderheit nicht Gegenstand eines öffentlichen Diskurses sein darf.

Erneut ein intensiver Briefwechsel zwischen Kapstadt und Berlin. Ich verstehe und teile Deine Differenzierung zwischen Sexualität und Liebe: „Für Sexualität muss es öffentliche Regelungen geben (nicht mit Minderjährigen, nicht mit Abhängigen, nicht ohne Verantwortung für die Folgen). Für die Liebe gibt es so was nicht – sie hat ihre eigenen Gebote.“ Auf meine Behauptung, dass auch heute junge Menschen, gerade Angehörige von Minderheiten, positive Vorbilder brauchen, antwortest Du mit dem vielleicht persönlichsten Bekenntnis: „Bei anderen Menschen mag das anders sein, zumal wenn sie in jungen Jahren glücklich geliebt haben. Die mögen sich ,outen’ und tun vielleicht ermutigende Wirkungen. … Ich selber überlebe durch Platonismus.“ Und nun ist geschehen, was ich lange befürchtete: Du bist in die Öffentlichkeit gezerrt worden. Nun explodieren die verdrängten Fragen von vor einem Jahrzehnt, unkontrollierbar. Zum Teil auf unangenehmste Medien- Manier („Berühmter Schul-Professor liebt Skandal-Direktor“), aber auch in der Erweckung homophober Hasstiraden, die in mittelalterlicher Diktion erneut „Kinderschänder und Homosexuelle“ gleichsetzen (nachzulesen u.a. in Stellungnahmen auf der Website der Volkspartei CDU).

In Deiner Loyalität gegenüber dem Freund (nicht Deinem „Lebens- oder Liebespartner“, wie Du korrekt betonst – aber wen interessieren noch wichtige Zwischentöne, wenn viele schreien?) hast Du einen tragischen Fehler begangen: Du verteidigst ihn als unschuldig, ja, bringst viele gegen Dich auf mit der fatalen Äußerung, dass allenfalls er von einem Schüler „irgendwie verführt“ worden sein könnte. Dies wenige Tage bevor Gerold Becker selbst „sexuelle Handlungen und Annäherungsversuche“ bei Schülern der Odenwaldschule öffentlich einräumt.

Unsere Kommunikation über all die Jahre war bewusst eine ganz überwiegend private. Es gibt nur einen Grund, warum ich jetzt einen offenen Brief an Dich schreibe: Du hast ein praktisches und theoretisches Lebenswerk geschaffen, dessen aufgeklärte Menschlichkeit auch weiter Anerkennung beanspruchen kann. Dies schließt eine faire (das heißt auf Fakten basierende) Kritik an Deiner Person nicht aus. Diejenigen, die jetzt mitmachen bei der „Demontage eines Denkmals“, vergessen, dass selten jemand so eindeutig gegen Denkmäler war und so eindeutig zu selbstbestimmtem Denken und Handeln aufgerufen hat wie Du. Blinde Flecken in der Verehrung Deiner Person bei manchen Deiner nun ehemaligen Anhänger rechtfertigen keine neuen blinden Flecken in der jetzt umso radikaleren Abwehr von allem, was Deinen Namen trägt.

All dies erlaubt keine Ignoranz gegenüber den Opfern von sexuellem Missbrauch. Sie verdienen uneingeschränkte Unterstützung und Öffentlichkeit. Die Einrichtung des Amtes einer Beauftragten gegen sexuellen Missbrauch der Bundesregierung ist nur zu begrüßen. Und auch: Dass Gerold Becker, der von einer tödlichen Krankheit gezeichnet ist, ein Gesprächsangebot gegenüber seinen ehemaligen und heute erwachsenen Schülern ausspricht, ist eine Geste, die seine Schuld nicht mindert, aber eine Verantwortlichkeit für seine Taten signalisiert, die, wie wir wissen, sonst eher die Ausnahme ist und nicht lächerlich gemacht werden darf. Gerade auch aus Achtung gegenüber den Opfern.

Mit Grüßen von Kapstadt nach Berlin, Lutz van Dijk

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