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Meinung: Was Putin uns fragt, fragen wir uns selbst

Der Streit mit Russland berührt die Identität der Nato Von Hans-Dietrich Genscher

Die Bundesregierung hat am vergangenen Wochenende in bemerkenswerter Weise die Position unseres Landes am Anfang des 21. Jahrhunderts bestimmt. Die Bundeskanzlerin hielt eine strategische Rede, die auf die Notwendigkeit einer kooperativen Weltordnung hinweist, die Bedeutung der UN unterstreicht und einer unipolaren Sicht eine Absage erteilt: Kein Land ist so stark, dass es die globalen Herausforderungen allein bewältigen könnte. Das verlangt Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe.

Wichtig ist auch ihre Aufforderung, Sicherheit umfassend zu verstehen, und ihre Forderung nach Rüstungskontrolle und Abrüstung. Bedeutsam war ebenfalls die Rede des Außenministers, der Militäreinsätze nur als letztes Mittel versteht, der einen umfassenden Risiko- und Sicherheitsbegriff definiert und der versichert, dass der Abbau bestehender Hindernisse für die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen EU und USA gegen niemanden gerichtet ist.

Der Verteidigungsminister wiederum hat sich mit seinem Appell zu einer nüchternen Beurteilung der Putin-Rede und zum Verständnis für die Sorgen Russlands wohltuend von der Reaktion des Nato-Generalsekretärs abgehoben. Der Finanzminister hat in Essen im Kreis seiner G-8-Kollegen verlangt, die Konsequenzen aus zunehmender globaler Interdependenz zu ziehen und in die Forderung nach mehr Transparenz auf dem globalen Finanzmarkt die Hedgefonds einzubeziehen. Gleichermaßen realistisch ist sein Appell zur Mitwirkung von China, Indien und Brasilien in den G 8.

Eine Analyse der von Wladimir Putin aufgeworfenen Fragen geht auch in die Richtung der Forderung nach gleichberechtigter globaler Kooperation. Die Rede sollte ernst genommen werden, auch dort, wo die Kritik zu weitgehend erscheint. Russland versteht sich als gleichberechtigter und ebenbürtiger Partner. Der Erfolg der europäischen Einigung zeigt, dass Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit die Voraussetzung konstruktiver Kooperation sind. Das gilt für Europa und das gilt weltweit.

Die Reaktion des neuen amerikanischen Verteidigungsministers auf die Putin-Rede war gekennzeichnet von Gelassenheit und von dem Willen zur Zusammenarbeit, aber auch von Ernsthaftigkeit bei dieser Bewertung der Rede. Das hat Möglichkeiten eröffnet. Schwerlich war zu erwarten, dass er über Akzentverschiebungen hinaus von Positionen abrückt, die derzeit noch die amerikanische Politik bestimmen. Immerhin hat er den Versuch seines Vorgängers, die verbündeten europäischen Staaten in alte und neue Europäer aufzuteilen, zur Seite geräumt.

Die in Moskau gestellte Frage, was die Aufstellung von Raketenabwehrsystemen im Osten des Nato-Gebietes zu bedeuten hat, trifft sich mit ebensolchen Fragen und mit Sorgen auch innerhalb des Bündnisses. Die Aufnahme neuer Mitglieder in die Nato in den letzten Jahren vollzog sich in Übereinstimmung mit der Schlussakte von Helsinki. Sie inspirierte aber auch den 1999 unterzeichneten KSE-Anpassungsvertrag über Rüstungskontrolle und konventionelle Abrüstung, der von der Nato noch immer nicht ratifiziert wurde. Geschähe es, könnte das manches in neuem Licht erscheinen lassen.

Es darf nicht verkannt werden: Es geht keineswegs nur um das Verhältnis zu Russland. Es geht um das Selbstverständnis von EU und Nato und um den Zusammenhalt der beiden Organisationen, wenn Entscheidungen so schwerwiegender Fragen wie die Stationierung von Raketenabwehrsystemen getroffen werden. Das kann nicht bilateral zwischen einzelnen Mitgliedstaaten entschieden werden. Das ist Angelegenheit des Bündnisses in seiner Gesamtheit und auch der EU. Eine Koalition der Willigen mit Teilnehmern außerhalb des Bündnisses hat in der jüngsten Vergangenheit den inneren Zusammenhalt schon viel zu stark beeinträchtigt.

Die EU ist unsere Zukunft, die transatlantische Partnerschaft ist für uns von elementarer Bedeutung. Die Nato muss zu ihren bewährten Entscheidungsmechanismen zurückfinden, und die außen- und sicherheitspolitische Identität der EU ist von zentraler Bedeutung.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Bundesaußenminister.

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