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Meinung: Was Russland von Deutschland lernen kann

Am 8. Mai wurde Europa befreit – und ein Teil erneut besetzt Von Vaira Vike-Freiberga

Am 8. Mai feiert Europa den 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, ein Konflikt, der ohnegleichen ist in seiner Brutalität und in der Zahl der Toten. In meinem Land, in Lettland, haben deutsche Nazis und ihre lokalen Komplizen die abscheulichsten und schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen, die es jemals auf lettischem Territorium gegeben hat.

Jedes Land, dass sich mit unerfreulichen und kontroversen Aspekten seiner Vergangenheit auseinander setzen will braucht eine gehörige Portion Mut, um dies ehrlich und offen zu tun. Man braucht Mut und Demut um Reue für vergangene Verbrechen zu zeigen. Ich bin fest davon überzeugt, dass solche Akte der Anerkennung unabdingbar sind für jedes Land, dass die Geister seiner Vergangenheit abschütteln und nach vorne schauen will in eine bessere und menschlichere Zukunft.

Seit Lettland seine Unabhängigkeit im Jahr 1991 zurückerhielt, hat mein Land – der Staat und die Gesellschaft – es auf sich genommen, seine Geschichte im 20. Jahrhundert zu dokumentieren und ehrlich zu bewerten, die schmerzhaftesten und kontroversesten Perioden eingeschlossen. Wir sind erfolgreich dabei, unsere Geschichte aufzuarbeiten und kritisch zu prüfen, so wie es Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist.

Jahrestage sind eine Zeit der Erinnerung und der Feierlichkeiten. Lettland wird sich in diesem Jahr mit dem Rest Europas über die Niederlage Nazideutschlands im Mai 1945 freuen. Anders jedoch als in Westeuropa führte der Zusammenbruch des gehassten Nazi-Imperiums nicht zur Befreiung meines Landes. Stattdessen wurden die drei baltischen Länder Lettland, Estland und Litauen einer weiteren brutalen Besetzung unterworfen durch ein anderes fremdes, totalitäres Imperium, dass der Sowjetunion.

Fünf lange Jahrzehnte über waren Lettland, Estland und Litauen von der Landkarte Europas verschwunden. Unter sowjetischer Besetzung erlebten die drei baltischen Länder Massendeportationen und Ermordungen, den Verlust ihrer Freiheit und die Einwanderung von Millionen russischsprachigen Siedlern.

Am 9. Mai werden 55 Führer der Welt in Moskau zusammenkommen. An jenem Tag, an dem Russland traditionell die Millionen von Russen ehrt, die während des Zweiten Weltkrieges starben, und an dem Russland seinen teuer bezahlten Sieg über Nazideutschland feiert. Als Präsidentin von Lettland habe ich die Einladung von Präsident Putin angenommen, nach Moskau zu kommen, obwohl das Ende des Zweiten Weltkriegs nicht nur den willkommenen Zusammenbruch des Naziregimes mit sich brachte, sondern auch den Verlust der Unabhängigkeit für mein Land, erneute Ermordungen, Repressionen und Wellen auf Wellen von Massendeportationen.

Ich werden denen, die im Krieg starben, meinen Respekt bekunden in der Hoffnung, dass Russland eines Tages den Mut aufbringen wird, seiner eigenen Geschichte ins Angesicht zu schauen; dass Russland die Fähigkeit erwerben wird, zwischen seinen Helden und seinen Tyrannen zu unterscheiden; und dass Russland endlich und endgültig die unzähligen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilen wird, die von der Sowjetunion im Namen des Kommunismus begangen wurden. Damit würde Russland seine ehrliche Verpflichtung zur Freiheit, seinen Respekt für die Menschenrechte und den Rechtsstaat demonstrieren. Solch eine Anerkennung würde die strategische Partnerschaft zwischen Europa, Amerika und Russland nur stärken.

Lettland möchte für ein neues und besseres Europa ohne Kriege, ohne Konflikte und ohne künstliche Grenzen arbeiten. Für ein Europa, dass vereint ist in seinem Festhalten an demokratischen Werten und humanistischen Prinzipien. Ich bin absolut überzeugt, dass wir das erreichen können, solange wir alle zusammenarbeiten.

Die Autorin ist Präsidentin der Republik Lettland.

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