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Meinung: Was stört, wird nicht gehört

Die neue Regierung verspricht Ehrlichkeit – sie sollte auch bescheiden sein

Unsere Probleme sind nur noch so groß, wie sie sich lösen lassen: Eine neue Bescheidenheit bildet sich heraus. Gelobt wird die Effizienz der großkoalitionären Verhandlungen, der sachliche Ton. Das Donnergrollen der Lobbyisten gilt als Beweis für die Gerechtigkeit des geplanten Kurses. Wenn alle heulen, trifft es schließlich jeden. Doch haben die Probleme das Handeln diktiert oder die Möglichkeiten?

Vor der Bundestagswahl erschien im britischen „Economist“ eine Titelgeschichte über die deutsche Wirtschaft. Gezeigt wurde ein Bundesadler mit muskelbepackten Flügeln. Gerhard Schröder freute sich. Stolz zeigte er das Magazin im Fernsehen. Die Analyse im jüngsten „Economist“ endet mit den Worten „Poor Germany“. Reaktion? Fehlanzeige. Was stört, wird nicht gehört.

Die zentralen Probleme des Landes stehen längst fest. Sie standen schon fest, bevor Rot-Grün an die Macht kam. Wer will, kann sie in voller Länge in der Ruck-Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, gehalten im April 1997, nachlesen. Hohe Arbeitslosigkeit, Erosion der Sozialversicherung, Alterspyramide, Globalisierungsdruck. Und längst vor dem Pisa-Schock forderte Herzog: „Bildung muss das Mega-Thema unserer Gesellschaft werden.“

Seitdem ist viel passiert – und nichts. Die Probleme sind eher größer geworden. Die lähmende Stimmung, die Herzog beklagte – Mutlosigkeit, Lähmung, Pessimismus –, lässt sich weiterhin diagnostizieren. Und wenn Angela Merkel, trotz der Misere, verspricht, bald werde das Land wieder ganz oben stehen, klingt das ebenfalls bekannt. „Wir können wieder eine Spitzenposition einnehmen“, sagte Herzog vor acht Jahren. Am Ende stünde eine Gesellschaft „im Aufbruch, voller Zuversicht und Lebensfreude“. Vielleicht wurden den Deutschen schon zu viele Aufbrüche verordnet. Langsam wissen sie, was sie erwartet. Das macht sie skeptisch.

Zur „Ehrlichkeit“, die Merkel propagiert, gehört daher auch, die Grenzen ihrer Politik offen zu legen. „Überfordert uns nicht!“, muss sie dem Bürger zurufen. Beispiel Geburtenrate: In Deutschland ist, unter 14 europäischen Ländern, der Kinderwunsch am geringsten ausgeprägt. Kann der Staat das ändern, durch Elterngeld oder kostenlose Kitas? Insbesondere die Elite verzichtet ja auf Nachwuchs. Je höher das Einkommen, desto niedriger die Geburtenrate: Diese Regel heißt „demographisch-ökonomisches Paradoxon“. Womöglich sind gesellschaftliche Faktoren für einen Wandel wichtiger als wirtschaftliche. Beispiel Flexibilität: Jeder zweite Erwachsene in Deutschland (51 Prozent) lehnt es ab, für einen Arbeitsplatz an einen anderen Wohnort zu ziehen. Wie will die große Koalition die Mobilität erhöhen? Womöglich übersteigt auch das ihre Kräfte.

Neue Bescheidenheit trifft neue Ehrlichkeit: Darin liegt auch eine Chance. Die Merkel-Regierung sollte uns, jedem Bürger, zunächst eine kleine, weltliche Predigt halten: Du hast nur dieses eine Leben. Mach’ das Beste daraus. Scheue weder das Risiko, noch die Verantwortung. Und nur für den Rest sind dann wir, die Regierenden, noch zuständig. Das wäre zwar nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, aber zumindest der einer soliden Beziehung.

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