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Meinung: Was wir vergessen, das war nicht

Verlogenes Spiel: Bei der Gesundheitsreform ringt die große Koalition mit sich selbst

Es muss eine Art kollektiver Gedächtnisverlust sein, der Teile der großen Koalition befallen hat. Anders lässt es sich kaum erklären, dass am Ende der Sommerpause nur noch wenige die Verantwortung für die Gesundheitsreform übernehmen wollen. Gerade acht Wochen ist es her, dass die Koalitionsspitzen in einer Nachtsitzung die Eckpunkte der geplanten Reform beschlossen haben – einvernehmlich.

Umso erstaunlicher ist es, dass bereits nach zwei Monaten ausgerechnet ein CSU-Bundestagsabgeordneter den Rücktritt von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt fordert. Eigentlich wäre das Aufgabe der Opposition. Doch die schärfsten Kritiker der Gesundheitsreform sitzen nicht in den Reihen von FDP, Grünen und Linkspartei – sondern in der Koalition.

Dass ein erster Arbeitsentwurf aus dem Gesundheitsministerium für so viel Aufregung sorgt, mag auch daran liegen, dass es in Teilen der Union ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber der Gesundheitsministerin gibt. Selbst gestandene Unionspolitiker fürchten, dass die erfahrene Machtpolitikerin Schmidt sie am Ende über den Tisch zieht. Schon der letzten Gesundheitsreform 2003 hatte sie ihren Stempel aufgedrückt, indem sie die nächtlich ausgehandelte Teilprivatisierung des Zahnersatzes am Ende doch anders umsetzte. Vermutlich gehört es auch zu ihrem Kalkül, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der so weit wie möglich ihren Vorstellungen entspricht. Das Eckpunktepapier bietet schließlich genügend Spielraum für Interpretationen. Und Zugeständnisse an die Union kann Schmidt immer noch machen.

Aber so zu tun, als ob der mehr als 400 Seiten starke Arbeitsentwurf aus dem Gesundheitsministerium nichts mehr mit den Eckpunkten der Koalition zu tun hätte, ist verlogen. Beispiel private Krankenversicherung: Union und SPD haben sich gemeinsam darauf verständigt, dass für Privatpatienten künftig der Versicherungswechsel erleichtert werden soll, indem sie ihre Alterungsrückstellungen zu einem neuen Anbieter mitnehmen können. Außerdem sollen freiwillig Versicherte (mit einem Monatseinkommen von mehr als 4000 Euro) künftig Anspruch darauf haben, bei den Privaten versichert zu werden – ohne Risikoprüfung. Dass diese Vereinbarungen das Geschäftsmodell der Privaten ordentlich umkrempeln werden, war absehbar. Offenbar merken einige Ministerpräsidenten und Bundestagsabgeordnete erst jetzt, was sie Anfang Juli beschlossen haben. Das ist verwunderlich, schließlich waren Politiker von Bund und Ländern am Kompromiss beteiligt.

Es verheißt nichts Gutes für die Umsetzung der Reform, wenn Union und SPD sich noch nicht einmal an die verabredeten Veränderungen erinnern wollen. Aber es verwundert einen nicht: Der Erste, der Teile des Kompromisses öffentlich in Frage gestellt hat, war schließlich CSU-Chef Edmund Stoiber. Und der saß definitiv mit am Verhandlungstisch.

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