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Was WISSEN schafft: Angriff von innen

Die Ursache der Multiplen Sklerose bleibt im Dunkeln

Vor 20 Jahren waren alle Experten voller Optimismus. Damals entdeckten Molekularbiologen zum ersten Mal Gene, die für menschliche Erbkrankheiten verantwortlich sind. Die Thalassämie etwa, eine seltene Blutkrankheit, wird durch eine einzige Mutation in der Erbinformation des roten Blutfarbstoffes ausgelöst: Der Gendefekt ist bei jedem Kranken zu finden und wird nach den Mendel’schen Gesetzen vererbt. Eines Tages, so hofften die Pioniere der Molekularen Medizin, würden auch die Gene für häufigere Menschheitsgeißeln gefunden werden.

Doch je weiter die Wissenschaftler in das menschliche Erbgut vorstießen, desto unübersichtlicher wurde die Lage. Bei keiner der häufigen erblichen Krankheiten, wie Diabetes oder Rheuma, ließ sich ein einzelnes Gen als Ursache identifizieren.

Eine der mysteriösesten erblichen Krankheiten ist die Multiple Sklerose (MS). Die Nervenkrankheit beginnt meist im jüngeren Erwachsenenalter mit unauffälligen Lähmungen, Sehstörungen oder zunächst wenig beachteten Missempfindungen. Dann schreitet sie meist über Jahrzehnte hinweg schubartig oder kontinuierlich fort, einige Patienten sind zuletzt schwer behindert und erliegen schließlich ihrem Leiden. Dass die Veranlagung zur MS vererbt wird, ist schon lange bekannt: Wenn bei eineiigen Zwillingen einer erkrankt, bekommt der andere mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent ebenfalls MS. Aus unbekannten Gründen greift dann ihr Immunsystem, das eigentlich Krankheitserreger abwehren soll, auf einmal die eigenen Nervenzellen an und zerstört sie.

Auf der Suche nach der Ursache dieser Selbstzerstörung durchforsten Molekularbiologen seit Jahrzehnten das menschliche Genom. Immer wieder fanden sie bei MS-Patienten und deren Verwandten Veränderungen einzelner Gene des Immunsystems – doch erstaunlicherweise haben auch gesunde Menschen genau die gleichen Genveränderungen, ohne dass bei ihnen oder ihren Familien jemals MS ausbricht. Es ist, als würde man nach einer einheitlichen Ursache für Verkehrsunfälle suchen: Überfahrenes Rotlicht, Trunkenheit und hohe Geschwindigkeit sind häufige Unfallursachen – aber keineswegs jeder, der betrunken über eine rote Ampel rast, verursacht einen Unfall.

Ein internationales Forscherkonsortium hat es nun mit einem ganz neuen Verfahren versucht, das erst durch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms vor wenigen Jahren möglich wurde. Statt einzelne Gene zu untersuchen, verglichen sie kurzerhand das gesamte Erbgut von 931 MS-Patienten und deren Eltern mit dem Erbmaterial gesunder Normalpersonen. Insgesamt durchforstete die über hundert Mitarbeiter starke Forschertruppe bei mehr als 12 000 Probanden jeweils rund 335 000 Genabschnitte in der Hoffnung, irgendwelche Auffälligkeiten zu entdecken, die auf die Ursache der Multiplen Sklerose hindeuten würden. Doch der Rundumschlag brachte nur ein mageres Ergebnis. Den molekularbiologischen Rasterfahndern gingen zwei Gene ins Netz, die ohnehin bei Autoimmunkrankheiten wie der MS zu den üblichen Verdächtigen gehören: die Rezeptoren für Interleukin-2 und Interleukin-7, die bei der Aktivierung bestimmter Abwehrzellen (sogenannte T-Zellen) eine Rolle spielen. Die gefundenen Genveränderungen sind zwar bei MS-Patienten geringfügig gehäuft, kommen aber auch bei 70 Prozent der Gesunden vor – die Forscher sind damit kaum schlauer als zuvor.

Immerhin erinnert das Ergebnis an ein leider wenig beliebtes Hausmittel, mit dem das Risiko für MS – zumindest ein wenig – gesenkt werden kann. Sonnenlicht und Vitamin D wirken nämlich der durch Interleukin-2 aktivierten Nervenzerstörung entgegen. In Äquatornähe ist MS selten, weil die Haut im Sonnenlicht Vitamin D bildet. Im vergleichsweise lichtarmen Mittel- und Nordeuropa tritt MS dagegen gehäuft auf – außer in den Küstenregionen Norwegens, wo der hohe Vitamin-D-Gehalt des Fischöls das Sonnenlicht ersetzt.

Bis die Forschung das schier unlösbare Puzzle der MS-Entstehung zusammengesetzt hat, kann deshalb der abendliche Löffel Lebertran nicht schaden. Und für Feinschmecker gibt es Vitamin D ja zum Glück auch in Kapseln.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle.

Alexander S. Kekulé

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