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Was WISSEN schafft: Cholera folgt nicht auf jede Naturkatastrophe

Die Angst vor Seuchen nach dem Erdbeben in Haiti ist unberechtigt

Nach dem schrecklichen Beben in Haiti macht sich jetzt die Angst vor Seuchen breit. Die Medien warnen dramatisch vor Durchfallerregern, die Gefahr soll insbesondere von den auf den Straßen verwesenden Leichen ausgehen. Und wie immer nach Tsunamis, Überschwemmungen, Bürgerkriegen und anderen Katastrophen in Entwicklungsländern wird der Teufel in sieben großen Lettern an die Wand gemalt: Cholera – ein Ausbruch der Seuche gilt vielen als schlimmstes Szenario für die Haitianer und die internationalen Hilfskräfte.

Tatsächlich wird die Gefahr von Choleraepidemien im Gefolge von Naturkatastrophen überschätzt. Nach den letzten verheerenden Unglücken, etwa dem großen Tsunami im indischen Ozean 2004 (230 000 Tote), dem Zyklon von Birma und dem Erdbeben in Sichuan 2008 (jeweils ca. 80 000 Tote), ist das prophezeite Massensterben durch Seuchen immer ausgeblieben. Dagegen wütet die Cholera seit 2008 in Simbabwe, ohne besondere mediale Aufmerksamkeit zu erregen – mit über 10 000 Erkrankten und knapp 5000 Toten ist hier eine der schwersten Epidemien des 21. Jahrhunderts im Gange.

Der Erreger Vibrio cholerae, den Robert Koch 1883 erstmals anzüchtete, gehört zu den am besten untersuchten Bakterien. Klar ist, dass die „Vibrionen“ durch mit menschlichen Fäkalien verunreinigtes Trinkwasser übertragen werden. Warum eine Region von der Cholera heimgesucht wird und eine andere trotz schlechter hygienischer Zustände verschont bleibt, ist dagegen bis heute ein Rätsel. Südamerika war 100 Jahre lang cholerafrei, bevor die Seuche 1991 plötzlich von Peru aus den ganzen Kontinent überrollte. In Haiti gibt es bis heute keine Cholera, obwohl hier die hygienischen Verhältnisse zu den schlechtesten der Welt gehören. Einer Theorie zufolge nistet sich der Erreger zuerst in Muscheln und anderen Wassertieren ein, bevor es zu einer größeren Epidemie kommt. Eine der Bedingungen hierfür ist eine relativ hohe Wassertemperatur. Dazu passt, dass sich der Pazifik vor Peru kurz vor dem Choleraausbruch von 1991 durch ein „El Niño“-Ereignis erwärmt hatte.

Bislang wurden Choleraepidemien im Zusammenhang mit Naturkatastrophen und Kriegen relativ selten und nur dann beobachtet, wenn der Erreger bereits vorher in der Region verbreitet war. Da es auf der Insel Hispaniola, zu der Haiti gehört, bislang keine Cholera gibt, ist ein Ausbruch der Seuche als Folge des Erdbebens eher unwahrscheinlich.

Die oft gehörte Warnung „nach dem Beben kommen die Seuchen“ stimmt für Haiti auch aus einem anderen Grund nicht: Hier, im verwahrlosesten und ärmsten Staat der westlichen Hemisphäre, waren die Seuchen schon vor dem Beben allgegenwärtig. In Haiti sind etwa fünf Prozent der Erwachsenen HIV-infiziert, das ist die höchste Rate Lateinamerikas. Auch bei Tuberkulose ist das Land mit 7000 Toten pro Jahr traurige Spitze. Die Hälfte der 9,6 Millionen Einwohner lebt ohne sauberes Trinkwasser und medizinische Versorgung. Weil im Brackwasser der Slums die Stechmücken brüten, ist das Denguefieber in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen. Bei uns längst ausgemerzte Krankheiten wie Diphtherie, Tollwut und Milzbrand sind an der Tagesordnung, von der allgegenwärtigen Malaria ganz zu schweigen.

Von den ohnehin wenigen Ärzten ist in den letzten drei Jahren ein Drittel ausgewandert. Als Grund nannten viele, neben besseren Verdienstmöglichkeiten, die zunehmenden Entführungen und Erpressungen.

Durch das Erdbeben ist die internationale Gemeinschaft endlich aufgewacht, die seit Jahrzehnten überfällige Rettungsaktion hat begonnen. Damit die Therapie wirkt, muss sie nach der Versorgung der Verletzten und dem Wiederaufbau der Gebäude noch viele Jahre fortgesetzt werden. Den chronisch schwerkranken Patienten nach der akuten Wundversorgung einfach zu entlassen, wäre jedenfalls nicht zu verantworten. Unter Umständen könnte die Katastrophe sogar als Beginn einer besseren Zeit in die Geschichte des Karibikstaates eingehen.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

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