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Was WISSEN schafft: Der Mensch ist ein poetisches Tier

Mit Darwin ins Theater: Warum die Naturwissenschaften uns dabei helfen können, die Kultur zu verstehen.

Sie kämpfen, um die Welt zu retten. Millionen Gamer ziehen täglich durch virtuelle, im Computer erschaffene Landschaften, um Orks, Trollen, Hexen und Dämonen den Garaus zu machen. Möge das Gute gewinnen! Die Spieler kämpfen mit Schwert, Pfeil und Zauberstab, und das alles im 21. Jahrhundert der Drohnenkriege und Präzisionsbomben. Aber hinter den Kulissen der düsteren Märchenwelt, direkt unter Drachenhöhle und Zwergenschänke, beginnt der binäre Code der Computerprogramme.

Niemanden stört anscheinend diese merkwürdige Mischung aus Mathematik und Mythos, von märchenhaftem Schein und digitalem Sein. Die Faszination einer urtümlichen Sagen- und Mythenwelt ist ungebrochen, womöglich stärker denn je. Ob „World of Warcraft“, „Game of Thrones“ oder „Herr der Ringe“, ob Computerspiel, Film oder Schmöker, der moderne Mensch befindet sich wie seine Vorfahren fest im Griff ritterlicher Abenteuergeschichten. Schon die erste Dichtung der Menschheit, das Gilgamesch-Epos, handelt vom Kampf gegen Ungeheuer, eingebettet in eine Geschichte um Freundschaft, Liebe und Tod.

Das Böse besiegen, das Chaos zähmen, das Unrecht rächen, die Welt wieder ins Lot bringen, das sind Leitmotive in den großen und kleinen Mythen der Menschheit (und auch die einer modernen Obsession – der des Kriminalromans und -films). Während ein Geisteswissenschaftler das kulturell Einzigartige in jeder dieser Schöpfungen herausarbeiten mag, wird ein naturwissenschaftlich geschulter Forscher versuchen, die Gemeinsamkeiten herauszufinden, die sich hinter den Fassaden dieser unzähligen Geschichten verbergen, ihre fundamentalen Grundsätze. So wie ein Kenner in einem kunstvoll gewebten Teppich ein wiederkehrendes Muster entdeckt.

Traditionell haben Naturwissenschaftler im Terrain der Kulturwissenschaften wenig verloren. Der amerikanische Paläontologe Stephen Jay Gould gab das Motto vor, indem er von den „sich nicht überschneidenden Lehrämtern“ sprach. Auf der einen Seite die Welt der Empirie und der Tatsachen, die von Naturwissenschaften ergründet werden. Auf der anderen Seite die Welt der Werte, der Bedeutung und des Sinns, in der Naturforscher nichts verloren haben und die stattdessen in das Lehrgebiet der Religion und anderer „Deutungsfächer“ gehört.

Aber die scharfe Trennlinie wird immer öfter durchbrochen. Die Fliegenbeinzähler proben den Aufstand. Einige Beispiele: Die moderne Archäologie hat ihren Horizont durch naturwissenschaftliche Analysen von biologischen Überresten ungeheuer erweitert, bis hin zu genetischen Fingerabrücken von Pharaonenmumien und Isotopenanalysen in königlichen Gebeinen aus dem frühen Mittelalter. Und der Biologe Jared Diamond hat in „Arm und Reich“ den Aufstieg von Zivilisationen aus der Geografie erklärt.

Warum begeistert uns Musik, was fasziniert uns am Spiel, weshalb erscheint uns ein Gemälde, eine Landschaft, ein Mensch als schön? Beim Versuch, diese fundamentalen Phänomene der Kultur zu beantworten, mischen Naturforscher mehr und mehr mit. Und oft haben sie eine ihrer Großtheorien als Handwerkszeug im Gepäck. Gemeint ist Darwins Evolutionstheorie, deren Elemente wie Anpassung oder sexuelle Auslese bei der Interpretation hilfreich sein können. Dabei ist es nicht das Ziel seriöser Wissenschaftler, die Kultur wegzuerklären oder die Kunst zu entzaubern, Literaturwissenschaft durch Biochemie zu ersetzen. Den Vorreitern einer „evolutionären Ästhetik“ wie dem Münchner Germanisten Karl Eibl oder dem (vor kurzem verstorbenen) amerikanischen Philosophen Denis Dutton („Der Kunstinstinkt“) geht es darum, der Deutung mehr, nicht weniger Tiefe zu geben. Für sie ist die menschliche Kultur auch Ausdruck seiner evolutionär geformten Natur.

Denis Dutton etwa hat darauf hingewiesen, dass schon die 1,5 Millionen Jahre alten Faustkeile des Homo erectus in ihrer blattförmigen Symmetrie vermutlich Objekte „zweckfreier“ ästhetischer Bewunderung waren. Für Karl Eibl, den „Evoluzzer aus München“ (so der „Spiegel“), ist der Mensch ein „poetisches Tier“. Eibl sieht im Erschaffen künstlicher Welten, in denen die Gerechtigkeit wiederhergestellt wird, eine Bestätigung unserer seelischen Grundstruktur. Ob Heldensage oder Krimi, Hauptsache, der Schurke muss am Ende büßen.

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