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Was WISSEN schafft: Mit 64 Jahren, da fängt ein Leben an

Die Republik empört sich über die aus der Türkei stammenden Ü-60-Eltern. Warum Deutschlands Haltung zur Eizellenspende bigott ist.

Das Kind wird mit 13 Jahren seinen Vater verlieren, ein Jahr später stirbt seine Mutter – so sagt es zumindest die Statistik für das Mädchen voraus, das vergangenen Donnerstag von einer 64-jährigen Mutter geboren wurde. Noch nie hat hierzulande eine so alte Mutter ein Kind zur Welt gebracht. Ein Eintrag in das Guinnessbuch der Rekorde ist trotzdem unwahrscheinlich: Die Schwangerschaft wurde mit Hilfe einer „Eizellenspende“ im Ausland eingeleitet, die in der Bundesrepublik verboten ist.

Bei Frauen jenseits der Wechseljahre bleibt der monatliche Eisprung aus, auch durch Hormonbehandlung lassen sich keine Eizellen mehr gewinnen. Deshalb besorgte sich die Aschaffenburger Seniorin Eizellen einer 25-Jährigen und ließ diese durch „In-vitro-Fertilisation“ (IVF) mit dem Samen ihres Mannes befruchten. Da der gute Gatte auch schon 64 Jahre alt ist, halfen die Ärzte seinen senilen Spermien ebenfalls auf die Sprünge: Sie wurden unter dem Mikroskop per „intracytoplasmatischer Spermieninjektion“ (ICSI) in die junge Eizelle bugsiert. Die Aschaffenburger Ärzte schließlich beendeten die künstliche Schwangerschaft bereits zweieinhalb Wochen vor dem errechneten Termin durch Kaiserschnitt, um der Frau das Risiko einer natürlichen Geburt auf jeden Fall zu ersparen. Mutter und Kind sind wohlauf.

Jetzt empört sich die Republik über die aus der Türkei stammenden Ü-60-Eltern. Selbst Reproduktionsmediziner, die seit Jahren die Freigabe der Eizellenspende fordern, distanzieren sich öffentlich – wohl auch aus Angst, ihr lukratives Gewerbe könnte insgesamt in Verruf geraten. Hauptamtliche Medizinethiker mahnen, die Heilkunst dürfe „der Natur keinen Zwang antun“. Ein Mitglied des Nationalen Ethikrates erklärte den Bürgern gleich einmal grundsätzlich, wo die moralische Grenze zu ziehen ist: Wenn Ärzte nicht mehr „krankhafte Zustände“ heilen, sondern „dem Menschen neue Funktionen hinzufügen“.

Doch so einfach ist die reale Welt des 21. Jahrhunderts nicht in Gut und Böse zu unterteilen. Das Natürlichkeits-Argument würde auch Schönheitsoperationen, Geschlechtsumwandlungen und Mittel gegen (natürliche) Geburtsschmerzen verbieten. Der Übergang zwischen neu hinzugefügten und lediglich wiederhergestellten Leibesfunktionen ist gerade bei Alterserscheinungen fließend: Demnach müsste der Ethikrat auch Potenzmittel, Samenspenden und alle Maßnahmen gegen altersbedingte Unfruchtbarkeit ächten.

Die weitaus meisten Behandlungen gegen „Unfruchtbarkeit“ werden jedoch aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Paare durchgeführt. Bis zum 40. Lebensjahr der Frau und dem 50. Lebensjahr des Mannes tragen die Kassen die Hälfte der Kosten, einschließlich IVF und der – wegen gehäufter Erbschäden umstrittenen – ICSI. Medizinisch ist diese Altersgrenze nicht zu begründen, auch eine gesunde 42-jährige Frau oder ein 60-jähriger Mann können Kinder bekommen. Warum die Kosten nur für verheiratete Paare und nur zur Hälfte erstattet werden, ist noch weniger einsichtig – gerade jüngere Paare mit medizinischen Fertilitätsstörungen werden dadurch benachteiligt.

Auch bezüglich der Eizellenspende ist die deutsche Position bigott. Kliniken in Belgien, Dänemark, Polen, Tschechien, Spanien, den USA und anderswo werben schon lange mit deutschen Internetseiten um die hiesige Kundschaft. Die Dunkelziffer deutscher Kinder mit genetisch falscher Mutter dürfte erheblich sein – nur macht nicht jede Scheinmama den Fehler, ihr Geheimnis zu Hause gleich auszuplaudern. Einige von ihnen unterstützen mit bis zu 10 000 Euro den internationalen Schwarzmarkt. Zugleich liegen die bei den jährlich rund 80 000 IVF übrig gebliebenen Eizellen ungenutzt in deutschen Gefrierschränken.

Sinnvoll wäre eine einheitliche EU-Regelung, mit der die Eizellenspende unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen wird. Dazu gehört natürlich an erster Stelle die Eignung der Eltern, auch bezüglich des Alters. Doch hier ist der nächste Streit bereits absehbar: Wie alt darf eigentlich ein Vater sein?

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

Alexander S. Kekulé

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