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Was WISSEN schafft: Typisch deutsch? Die Frühjahrsmüdigkeit!

Der Mensch hält keinen Winterschlaf – aus gutem Grund

Wenn gegen Ende des Winters die Tage wieder länger werden, stellt sich ein merkwürdiges Phänomen ein. Während sich hierzulande etwa die Hälfte der Menschen durch das Licht, die Wärme und die erwachende Natur geradezu elektrisiert fühlt, erlebt die andere Hälfte einen Morgenkater, als müsste sie erst langsam aus dem Winterschlaf erwachen.

Ob die „Frühjahrsmüdigkeit“ eine biologische Tatsache oder nur kollektive Einbildung ist, hat die Neurobiologie noch nicht abschließend geklärt. Das Phänomen gibt es auf der Erde ohnehin nur in höheren Breitengraden, wo sich Sommer und Winter hinsichtlich Temperatur und Tageslänge deutlich unterscheiden. Verdächtig ist auch, dass „spring fatigue“ im englischen Sprachraum kaum bekannt ist, der Frühling wird hier eher mit dem Gegenteil („spring fever“) assoziiert. Auch in Frankreich und Spanien sind „fatigue de printemps“ und „astenia primaveral“ nicht gerade Volkskrankheiten: Höchstens fünf Prozent der Menschen leiden hier darunter, während es in Deutschland angeblich 50 Prozent sein sollen.

Da verwundert es nicht, dass die gängige Erklärung der „Frühjahrsmüdigkeit“ von deutschen Ärzten stammt. Schuld wäre demnach ein Überschuss des „Schlafhormons“ Melatonin im Verhältnis zum „Glückshormon“ Serotonin am Ende des Winters.

So richtig schlüssig ist die deutsche Theorie jedoch nicht. Da die Melatoninproduktion in der Zirbeldrüse von der Dauer und Intensität des Tageslichts abhängt, ist dessen Blutspiegel während der Wintermonate am höchsten, die des Gegenspielers Serotonin am niedrigsten. Bei entsprechender Veranlagung kann dadurch eine „Winterdepression“ entstehen. Diese bessert sich jedoch im Frühjahr, wenn der Serotoninspiegel wieder ansteigt. Auch ohne Winterdepression haben die meisten Menschen in der dunklen Jahreszeit ein stärkeres Schlafbedürfnis, das im Frühling nachlässt – die „Frühjahrsmüdigkeit“ ist damit nicht zu erklären.

Doch warum ist der Mensch im Winter müder als im Sommer? Seine jahreszeitlichen Hormonschwankungen ähneln denen von Tieren, die Winterschlaf halten. Allerdings hält der Homo sapiens keinen Winterschlaf, aus gutem Grund. Echte Winterschläfer wie Igel, Murmeltier und Siebenschläfer fahren nämlich in der kalten Jahreszeit ihren Stoffwechsel extrem herunter, weil sie sonst verhungern oder erfrieren würden. Sie bezahlen dafür einen hohen Preis: Wie Experimente zeigten, haben Säugetiere nach dem Winterschlaf einen Großteil dessen vergessen, was sie in der letzten Saison gelernt hatten. In der menschlichen Evolution wurde die Hibernation deshalb schon vor Jahrmillionen abgeschafft. Ist das winterliche Schlafbedürfnis des Menschen also nur ein sinnloses Überbleibsel der Evolution?

Neuere Forschungsergebnisse deuten in eine andere Richtung. Wissenschaftler der Universität Pittsburgh fanden kürzlich heraus, dass Schlafmangel die Anfälligkeit für Erkältungen deutlich erhöht: Erwachsene Testpersonen, die regelmäßig weniger als sieben Stunden schlafen, erkrankten nach experimenteller Infektion mit einem Schnupfenvirus dreimal so häufig wie solche, die acht Stunden oder mehr schlafen. Wie am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie gezeigt wurde, korreliert die Schlafdauer verschiedener Säugetierarten mit der Zahl ihrer weißen Blutkörperchen und den Abwehrkräften gegen Parasiten. Offenbar ist Schlaf also wichtig, um die Immunabwehr zu regenerieren.

Aus anderen Untersuchungen ist bekannt, dass zwei Regulatoren der Immunabwehr – Interleukin-1 (IL-1) und Tumornekrosefaktor (TNF) – bei Säugetieren die Dauer des Tiefschlafs verlängern. Weil IL-1 und TNF ihrerseits durch Krankheitserreger aktiviert werden, reagiert der Organismus auf Infektionen mit vermehrtem Schlafbedürfnis. Möglicherweise hat das vermehrte Schlafbedürfnis im Winter also den biologischen Zweck, uns vor den in der kalten Jahreszeit häufigen Infektionskrankheiten zu schützen.

Ob auch die „Frühjahrsmüdigkeit“ einen tieferen Sinn hat, bleibt allerdings weiter offen – möglicherweise ist sie ja doch nur ein ziemlich deutsches Phänomen.

Der Autor ist Institutsdirektor und Professor für Medizinische Mikrobiologie in Halle. Foto: J. Peyer

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