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Was WISSEN schafft: Zwölf Dollar für eine Handvoll Erkenntnis

Deutsche und auch amerikanische Politiker haben in der NSA-Debatte vergessen, dass „So will es das Gesetz“ kein hinreichendes politisches Argument ist.

Von Anna Sauerbrey

In einem kleinen Laden in Capitol Hill, Washington D.C., verkauft eine ältere Dame gebrauchte Bücher und den Untergang der Vereinigten Staaten. „Das ist nur die jüngste Anekdote aus diesem furchtbaren Zeitalter, in dem wir leben“, sagt sie gerade zu einer Kundin. „Was auch immer mal unsere Verfassung ausgemacht hat, es ist auf und davon.“ Ihr Labyrinth aus vergilbendem Weltwissen erstreckt sich über mehrere Räume. Wittgenstein muss auf der Toilette ausharren, die Politikwissenschaft ist im vorletzten Raum aufgetürmt. In einem staubigen Stapel findet sich eine Erstausgabe von Ronald Dworkins „Taking Rights Seriously“ („Bürgerrechte ernstgenommen“). Die Essaysammlung des Rechtsphilosophen ist 1977 erschienen und lässt sich auch als Kommentar auf den damaligen Kampf für die Rechte der schwarzen Bevölkerung in den USA lesen. Was er wohl auf die Rede zur Lage der Nation geantwortet hätte, die von der Kasse herüberdringt?

Dworkin, der zuletzt an der New York University unterrichtet hat, ist im Februar im Alter von 81 Jahren verstorben – also bevor Edward Snowden das Ausmaß der Schnüffelei der NSA enthüllte, das die Buchhändlerin unter anderem zu ihrer Predigt bewegt. Dworkin hat sich immer wieder in aktuelle politische Debatten eingemischt – zum Thema Überwachung hat er sich offenbar nicht geäußert. Allerdings gibt es in der Verteidigungslinie der amerikanischen Regierung einige Argumente, die Dworkin sicherlich nicht hätte gelten lassen. Zum Beispiel: Ist doch alles legal; die NSA macht nur, was der Kongress ihr gesetzlich erlaubt hat.

Dworkin war der Meinung, dass es individuelle Rechte und moralische Prinzipien gibt, die dem Recht der Gesetzbücher vorausgehen, Rechte, die durch keinen Beschluss negiert werden können und sogar der Verfassung vorausgehen. Um Recht zu schaffen, das nicht nur dem Text nach rechtens ist, sondern auch in einem übergeordneten Sinne gerecht, vertraute Dworkin darauf, dass Einzelne und ganze Gesellschaften Diskrepanzen zwischen dem geschriebenen Recht und diesen tiefergehenden moralischen Prinzipien erkennen können. Er setzte auf die moralische Intuition der Bürger. Die moralische Intuition vieler Amerikaner in der Zeit der Entstehung von „Taking Rights Seriously“, den 60er und 70er Jahren, war es, dass die Rassengesetzgebung ungerecht war. Dworkin diskutiert deshalb unter anderem die Frage, wann es rechtens sein kann, zivilen Ungehorsam zu leisten, also gegen bestehende Gesetze zu verstoßen. Das Gleichheitsprinzip, so der Schluss, den er zieht, ist eines jener Prinzipien, deren Verteidigung selbst einen Verstoß gegen bestehende Gesetze legitimiert.

Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, Dworkins Schriften auf andere umstrittene Fälle – etwa das Recht auf den Schutz der Privatsphäre – zu übertragen. Die Art und Weise, wie Dworkin seine überwölbenden moralischen Prinzipien ableitet, gleicht eher einem Gedankenexperiment als einer konkreten Gebrauchsanweisung für den verantwortungsbewussten Bürger. In seinen Essays nimmt Dworkin mehrere Anläufe. Einmal arbeitet er mit Elementen aus John Rawls’ „Theorie der Gerechtigkeit“. In einem anderen Essay stellt er sich vor, es gäbe eine Art Summe aller in einer Gesellschaft existierenden Rechte und Regeln: die erlassenen Gesetze, die Regeln, die die Institutionen schaffen, die diese Gesetze erlassen, die individuellen Rechtstheorien aller Richter und Individuen, ungeschriebene soziale Regeln. Die Ideen, die diese virtuelle Rechtswolke zusammenhalten, sind die Prinzipien, die den Kern seiner Rechtsphilosophie ausmachen. Oder: Prinzipien sind das, was der Summe unserer Rechte und Regeln Kohärenz verleiht.

Diese Herleitung erspart keiner Gesellschaft eine Debatte, eine Einigung auf eine „tieferliegende Grammatik“ der Gerechtigkeit. Auch ist der Rückgriff auf derart unspezifische, nicht niedergeschriebene Rechte nicht ungefährlich – denn auch die Frage, wo individuelles Recht notgedrungen endet, bleibt so unbeantwortet. Dworkin wieder weiter oben auf die Lektüreliste zu setzen, kann trotzdem nützlich sein. Sowohl deutsche als auch amerikanische Politiker scheinen in der NSA-Debatte vergessen zu haben, dass „So will es das Gesetz“ kein hinreichendes politisches Argument ist.

An dem Kassentischchen neben der Tür hebt die Buchhändlerin den Blick von einer Taschenbuchausgabe von „Macbeth“. Sie lächelt, als sie Dworkin sieht. „Das ist ein Guter“, sagt sie. „Macht zwölf Dollar.“

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