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Meinung: Wenn Bäume zu langsam wachsen

Japans Wähler wollen raschere Reformen

Die Japaner haben den Druck auf Junichiro Koizumi erhöht, seinen Reformversprechen Taten folgen zu lassen. Zwar konnte die Regierungskoalition des japanischen Ministerpräsidenten bei den Unterhauswahlen erneut eine Mehrheit erringen. Doch Koizumis Liberaldemokratische Partei (LDP) schnitt nicht so gut ab, dass er das Ergebnis als deutliches Mandat für seine bisherige Politik werten könnte. Dazu hat die oppositionelle Demokratische Partei (DPJ) zu sehr zugelegt.

Aus dem zarten Spross der Reformen solle nun ein Baum wachsen, hatte Koizumi vor der Wahl gesagt – und die Wähler so um Geduld gebeten. Die haben stattdessen deutlich ihre Ungeduld kund getan. Sie verfolgen seit Jahren den Kampf Koizumis gegen die Reformgegner innerhalb seiner Liberaldemokratischen Partei (LDP). Will er die Staatsausgaben für Bauprojekte trimmen, weil Japan bereits das am höchsten verschuldete Industrieland der Erde ist, rumort es in der Partei. Zu viele LDP-Abgeordnete haben einen Pakt mit örtlichen Bauunternehmern geschlossen, die ihnen Stimmen und Spenden im Gegenzug für neue Aufträge aus der Zentrale zuschanzen. Will der Premier die Postdienste privatisieren, protestiert die nächste, nicht minder mächtige Lobby innerhalb der Partei.

Eine Reihe halbherziger Erneuerungsansätze und eine Menge vager Reformversprechen für die Zukunft, das ist alles, was Koizumi bisher vorzuweisen hat. Japans Wähler haben jedoch, anders als die veränderungsscheuen Berufspolitiker, die Notwendigkeit eines wirtschafts- und sozialpolitischen Wandels erkannt. Der alte Gesellschaftspakt der Nachkriegszeit, mit seinem Egalitarismus, seiner Umverteilung des Reichtums von den Städten aufs Land und einer Verwaltung von Elitebürokraten ist längst zerbrochen.

Um das zu verstehen, genügt es, die blauen Zeltstädte der Obdachlosen zu besuchen, die in den Parks japanischer Städte gewachsen sind. Die auch vor dem Inselstaat nicht halt machende Globalisierung, der rasche und aus japanischer Sicht einschüchternde Aufstieg Chinas, die ungelöste Sicherung der Renten angesichts rasch fortschreitender Überalterung, all dies hat die Japaner verunsichert. Die Menschen sorgen sich um ihre Arbeitsplätze, ihre Renten und die Ausbildung ihrer Kinder. Wo ganze Industriezweige aufs asiatische Festland abwandern und Provinzmetropolen zu Geisterstädten verkümmern, kann man den Wählern das Durchmogeln mit alten Rezepten nicht mehr verkaufen.

Koizumi wird noch immer als der einzige Politiker gesehen, der Reformen durchsetzen könnte – zumindest schrittweise. Den einen mögen sie zu schnell gehen, anderen zu langsam, aber außer ihm ist kein zweiter, charismatischer Agent des Wandels in Sicht. Die oppositionelle Demokratische Partei Japans (DPJ) konnte sich jedoch erstmals als ernsthafter Gegenspieler der LDP positionieren. Immer mehr Wähler wollen sie mit dem Umbau der Gesellschaft beauftragen.

Derzeit erlebt Japan die paradoxe Situation, dass der Präsident der seit fünf Jahrzehnten fast ununterbrochen herrschenden Partei, somit der ultimative Verteidiger des Status Quo, sich gleichzeitig als dessen Zerstörer geriert. Und die Japaner haben ihm diese Doppelrolle noch einmal abgenommen, als seien sie dankbar, die unbequeme Reform-Aufgabe auf so bequeme Weise delegiert zu haben.

Ob Koizumis Experiment gelingt, ob also die Erneuerung Japans ausgerechnet innerhalb der verkrusteten LDP beginnt, werden die nächsten Jahre zeigen. Die Partei und Koizumi haben noch einmal eine Chance bekommen. Sollten sie jedoch den Reformspross vertrocknen lassen, bevor er zu einem Baum heranwachsen kann, könnte dies ihr letzter Versuch gewesen sein.

Henrik Bork

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