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Meinung: Wenn Karlsruhe Europa verhaftet

Das Bundesverfassungsgericht steht vor einem Schicksalsurteil – das es besser nicht fällt

Danke, Europa, ein halbes Jahrhundert hast du uns gut getan. Friedlich sind wir, wiedervereinigt, etwas unterbeschäftigt, dafür satt und: die Grenzen sind wir los und die Geldumtauscherei. Deshalb können wir uns auch von dir verabschieden: Vom Stabilitätspakt etwa, von unserer Rolle als Konjunkturlokomotive schon längst – und bald von mehr?

Von heute an verhandelt das Bundesverfassungsgericht zwei Tage über den europäischen Haftbefehl, und Justizministerin Zypries befürchtet genau dies: Dass wir uns „in weiten Teilen aus der EU verabschieden“ können, wenn die Richter sich querstellen. Denn der Haftbefehl legt ihnen eine neue Fessel an, und die Frage ist, ob sie, die sie für die Grundgesetz-Grundrechte der Bürger zuständig sind, diese Fessel sprengen wollen.

Mit dem Haftbefehl können eigene Staatsangehörige an andere EU-Staaten ausgeliefert werden – und zwar auch dann, wenn deren Tat im Heimatland gar nicht strafbar ist. Den Ermittlern wird damit ein Schlupfloch eröffnet, eherne Verfassungsgrundsätze zu unterlaufen: Der Deutsch-Syrer Darkazanli, dessen Haftbefehl den Anlass für die Karlsruher Sitzungen bildet, gilt als ein Kopf von Al Qaida. In Deutschland kann er nicht bestraft werden, weil das, was man ihm vorwirft – Unterstützung einer ausländischen Terrorvereinigung – erst seit 2002 strafbar ist und man Darkazanli seitdem nichts nachweisen kann. In Spanien ist es dagegen schon länger strafbar, also soll er dorthin gebracht werden. Das Verbot rückwirkender Strafgesetze gilt also für einen Deutschen nicht mehr, nur weil er EU-Bürger ist?

Das Karlsruher Gericht ließ erkennen, den Fall zu einem Tribunal über die Brüsseler Eurokratie machen zu wollen. Zu wenig Volksherrschaft, zu wenig Kontrolle, zu wenig Rechtsstaat, meinen sie. Zwei Mal, 1974 und 1986, hatten sie versprochen, sich aus Europa herauszuhalten, so lange Europa das Grundgesetz respektiert. Der Haftbefehl zerrt gewaltig am höchstrichterlichen Geduldsfaden. Es könnte sein, dass er jetzt reißt.

Ausgerechnet bei der Klage eines mutmaßlichen Terroristen spürt die Öffentlichkeit, dass es in Sachen Europa ans Eingemachte geht. Der gemeinsame Raum des Rechts, er meint eben auch das Strafrecht, jene Gesetze, in denen sich nationale Macht- und Souveränitätsansprüche so deutlich spiegeln wie sonst nirgendwo. Wer straft, der herrscht auch. Es stellt sich in der Tat die Frage, wie dieser Anspruch geteilt werden kann. Und ob.

Wichtiger ist nur die Frage, wer dies zu entscheiden hat. Hier fällt die Antwort leichter: Jedenfalls keine Richter. Der Haftbefehl ist ein Rechtsfall – die Europäische Union ist dagegen keiner. Das Gericht könnte über das eine urteilen, ohne das andere zu verdammen. Machen sich die Karlsruher Richter auf diese schwierige Gratwanderung, ist ihnen jene politische Trittsicherheit zu wünschen, die sie in der Vergangenheit bewiesen haben. Die Europapolitik aus Brüssel mag zwar daran kranken, dass die Bürger sie nicht wählen können. Nur: Was wäre bei einer Europapolitik aus Karlsruhe daran so anders?

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