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Immer weniger Nachwuchs: Wenn Kinder zum Angst-Thema werden

Vor zehn Jahren lebten in Deutschland 15,2 Millionen Kinder und Jugendliche. Heute sind es nur noch 13,1 Millionen. Damit ist Deutschland das Schlusslicht Europas. Eine Erklärung dafür fällt schwer.

Von Anna Sauerbrey

Deutschland vergreist. Dieser Satz hat das Potenzial, der Refrain des Jahrzehnts zu werden. Für alle zum Mitsummen hat ihn gestern das Statistische Bundesamt noch einmal vorgesungen. Hauptergebnis der Studie „Wie leben Kinder in Deutschland?“ ist: ziemlich einsam, denn sie werden rasant weniger. Vor zehn Jahren lebten in Deutschland noch 15,2 Millionen Minderjährige. Heute sind es nur noch knapp über 13,1 Millionen. Damit ist Deutschland das Kinder-Schlusslicht Europas. Und wie immer, wenn neue Zahlen die bekannte Misere bestätigen, drängt sich an dieser Stelle die Vision einer Gesellschaft auf, in der grantige Alte mit dem Gehstock nach den letzten spielenden Kindern schlagen und „Ruhe“ brüllen.

Das Interessanteste an der Studie ist, dass sich darin eigentlich kein triftiger Grund dafür findet, warum das Land auf diese Gruselzukunft zusteuert – und damit kein Ansatzpunkt für ein politisches Allheilmittel. Sicher, folgt man dem Soziologen Ulrich Beck, nach dem wir in einer Gesellschaft leben, deren Konflikte sich im Wesentlichen um die Verteilung von Risiken organisieren, bilden Kinder eine „soziale Gefährdungslage“, ein Risiko, jedenfalls für bestimmte Gruppen. Wer in Deutschland ein Kind allein großzieht, ist akut von Armut bedroht. Alleinerziehende erhalten besonders häufig staatliche Unterstützung, sie haben einen deutlich geringeren Lebensstandard als der Durchschnitt der Bevölkerung und ihre Zahl steigt mit der Urbanisierung und der Scheidungsrate. Kinder per se aber machen nicht arm. Zwei Elternteile, die mit zwei Kindern in einem Haushalt leben, haben statistisch das geringste Armutsrisiko im Vergleich zu anderen Lebensformen, auch im Vergleich zu allein lebenden Paaren. Die politischen Entscheidungen der vergangenen Jahre haben darüber hinaus dazu beigetragen, persönliche und finanzielle Risiken zu mindern. Die Betreuungsquote für Kleinkinder ist zwar im europäischen Vergleich weiterhin mies. Aber sie hat sich gebessert, wie die Statistiker feststellten, und ist innerhalb von vier Jahren von 14 auf 23 Prozent gestiegen. Das Elterngeld federt das finanzielle Risiko ab. Wo also liegt das Problem?

Folgt man Ulrich Beck weiter, sind wichtiger als die tatsächlichen Risiken die empfundenen Risiken – und die sind besonders groß für Frauen, gelten aber auch für Männer: Kinder sind inzwischen für viele, gerade für junge Städter, zu einem Angst-Thema geworden. Angst davor, nicht mehr flexibel genug für die Anforderungen einer brutaler werdenden Arbeitswelt zu sein. Angst davor, nach der Babypause nicht mehr in den Job zurückzufinden. Angst vor Verzicht, in einer Zeit, in der Löhne stagnieren und Arbeitsverhältnisse unsicherer werden. Wer Kinder hat, fährt nach Usedom, nicht in die USA, oder gar nicht weg.

Die gesellschaftlichen Anreize hingegen sind gering. Sicherlich ist es gut, dass der Diskurs um Kinder und Erziehung eine pragmatische Dimension bekommen hat, dass die wertkonservative und oft romantische Aufladung von Familie überwunden ist. Das hat die Offenheit für die Verschiedenartigkeit menschlichen Zusammenlebens gefördert. Es hat aber auch dazu geführt, dass sich Kinder offenbar nicht mehr als Wert an sich verkaufen lassen. Appelle an die Vermehrungswilligkeit der heute 20- bis 40-Jährigen werden stets mit der politischen Großwetterlage verknüpft. Kinder werden zu einem ökonomischen Nutzwert. Sie sind die zukünftigen Ingenieure, die die Prosperität des Industriestandorts Deutschland sichern. Sie sind die zukünftigen Pfleger, die ihren eigenen Eltern und Großeltern den Sabber abwischen. Was Deutschland neben der völlig unzureichenden Kinderbetreuung vielleicht am meisten von den europäischen Nachbarn unterscheidet, ist die Willkommenskultur. In Finnland bekommt jede schwangere Frau vom Staat ein Begrüßungspaket für ihr Baby, mit Kleidung, Spielsachen und praktischen Dingen für die ersten Wochen.

In Deutschland bekommen junge Eltern als Erstes Post vom Finanzamt, weil jedem neuen Bürger gleich eine Steueridentifikationsnummer zugeordnet wird.

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