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Meinung: Wer nicht richtig rechnet

Rot-Grün betreibt eine Umverteilung von unten nach oben – und verschärft so die wirtschaftliche Lage des Landes

Jetzt lachen sie wieder, Deutschlands Sozialdemokraten und ihr Kanzler. Die Protestwelle gegen die Sozialkürzungen ebbt ab. Auch die C-Parteien beziehen nun Wählerprügel für ihre Reformdrohungen. Und auf dem Arbeitsmarkt sei eine „Trendwende zu erwarten“, verspricht der Wirtschaftsminister. Alles in Ordnung also? Geht es wieder aufwärts in Deutschland?

Schön wär’s. Doch die Wende wird nicht eintreten. Denn der von Deutschlands Wirtschaftselite mit Hilfe von Rot-Grün verfolgte Radikalumbau führt geradewegs in den weiteren Niedergang. Dabei ist die Kürzung der Arbeitslosenhilfe nur der jüngste Baustein eines längst gescheiterten Konzepts: Sinkende Löhne, Entlastung der Arbeitgeber von Sozialabgaben und weitgehende Steuerfreiheit für Kapitalerträge – all das soll die Gewinne der Unternehmen steigern. Werde diese Strategie nur lange genug verfolgt, dann investieren die Begünstigten wieder, schaffen damit zusätzliche Arbeitsplätze – und alles wird gut. So lautet der seit mehr als einem Jahrzehnt von Unternehmerverbänden und ihren akademischen Wasserträgern verkündete Kinderglaube. Und genau so wird es niemals funktionieren. Wäre diese Strategie erfolgreich, dann müsste Deutschland längst wieder zur europäischen Wachstumslokomotive aufgestiegen sein. Schließlich ist die Umverteilung des Volkseinkommens von unten nach oben in den letzten Jahren ordentlich vorangekommen.

So stiegen die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen zwischen 1990 und 2002 abzüglich der Inflation um satte 40 Prozent. Die Gewinne von Kapitalgesellschaften (AG, GmbH) legten sogar um 75 Prozent zu, Löhne und Gehälter dagegen lediglich um sieben Prozent. Und das auch nur Brutto. Nach Steuern und Abgaben sind die tatsächlich verfügbaren Einkommen der abhängig Beschäftigten heute um ein knappes Prozent geringer als vor 14 Jahren. Die Bezieher von Gewinn- und Vermögenseinkommen haben dagegen fast 50 Prozent mehr. „Wir können nur das verteilen, was wir vorher erwirtschaftet haben“, sagt Gerhard Schröder , wenn er seinen Wählern Verzicht predigt. Diese Aussage ist irreführend, weil fortwährend ganz ordentlich verteilt wird. Nur ist eben die Erwerbsarbeit nicht mehr das Medium, über das der wachsende Reichtum unter die Leute kommt. Vom gesamten Wirtschaftswachstum der vergangenen anderthalb Jahrzehnte, preisbereinigt immerhin 270 Milliarden Euro jährlich, haben die Arbeitnehmer nichts gesehen. Und selbst das beschönigt die wachsende Ungleichverteilung. In der Lohnsumme enthalten sind auch die extrem angewachsenen Gehälter von Spitzenmanagern und anderen hoch qualifizierten Fachkräften. De facto muss sich also ein erheblicher Teil der Bevölkerung seit langem mit sinkenden Einkommen begnügen.

Kein Wunder, dass jede seriöse volkswirtschaftliche Analyse in der Feststellung mündet, das Kernproblem der deutschen Ökonomie sei die mangelnde Binnennachfrage. Dieser Umstand ist die zentrale Ursache für den anhaltenden Niedergang der Investitionen und die damit einhergehende Stagnation. Denn für zusätzliche Produkte oder Dienstleistungen gibt es einfach keinen Markt hierzulande. „Autos kaufen keine Autos“, die banale Erkenntnis, mit der vor einem Jahrhundert Henry Ford die Verdoppelung der Löhne seiner Arbeiter begründete, ist heute noch so wahr wie damals. Und so wie damals das „Wall Street Journal“ Ford zum „Wirtschaftsverbrecher“ erklärte, geißeln heute Konzernstrategen und ihre medialen Auguren jeden zum Modernisierungsfeind, der an die simple Tatsache erinnert, dass Löhne eben nicht nur Kosten sind, sondern auch Nachfrage schaffen.

Trotzdem setzt die Schröder-Regierung alles daran, die Masseneinkommen weiter nach unten zu treiben. Das Unheil begann mit der Unternehmenssteuerreform im Jahr 2000. Obwohl bereits die Kohl-Regierung die Steuerlast der Unternehmen in großem Umfang gesenkt hatte, legten Schröder und sein Eichel noch eins drauf. So verlor die öffentliche Hand Einnahmen in Höhe von rund 20 Milliarden Euro pro Jahr.

Weitere sechs Milliarden Euro jährlich kostet die Senkung des Spitzensteuersatzes von 48,5 auf 42 Prozent, die wiederum die ohnehin Privilegierten begünstigt. 26 000 000 000 Euro – damit könnten 100 000 Lehrer bezahlt und obendrein noch 16 000 marode Schulen mit einer Million Euro jährlich saniert werden. Stattdessen wurden gigantische Defizite vorsätzlich herbeigeführt. Seitdem agiert der Staat selbst als Krisentreiber. Jugendzentren, Bibliotheken, Schwimmbäder müssen schließen. Die präventive Jugend- und Sozialarbeit wird abgeschafft. Und die Kommunen kürzten ihre Investitionen um über 30 Prozent, was bei Handwerksbetrieben und anderen regional tätigen Unternehmen zigtausende Jobs kostete.

Zum anderen legte Rot-Grün unter dem Tarnnamen Agenda 2010 ein Sparprogramm auf, das die Milliardengeschenke an die Gewinner der Gesellschaft durch Kürzungen bei den Verlierern wieder reinholen soll. Die Einsparungen bei den Arbeitslosen entsprechen dabei in etwa den Mindereinahmen infolge des abgesenkten Spitzensteuersatzes. Gleichzeitig wollen die neuen Sozialdemokraten die Misere am Arbeitsmarkt dadurch beheben, dass künftig die Arbeitsvermittler der Bundesagentur ihre Kunden zur Annahme von Jobs zwingen, die 30 Prozent unter Tarif bezahlt werden. Das ist wirtschaftpolitischer Unfug. Welchen Sinn macht es, denen, die schon alles haben und nicht viel mehr konsumieren werden, noch mehr zu verschaffen und bei denen zu kürzen, die ohnehin jeden Euro ausgeben? Und wie soll jemals die deutsche Binnenkonjunktur in Gang kommen, wenn jetzt das Lohngefüge auf breiter Front aufbricht und die gesamte Mittelschicht unter Abstiegsdruck gesetzt wird?

Ja, schon recht, angeblich erfordert „der Sturm der Globalisierung“ (Schröder) dieses ganze Programm. Hätte Rot-Grün die Gewinnsteuern nicht gesenkt, würden noch mehr Unternehmen Jobs in Niedriglohnländer verlagern und würden noch mehr Reiche ihr Vermögen in die Schweiz verlegen, lautet die Mär. Dumm nur, dass die Steuerflucht trotz niedriger Steuersätze keineswegs nachlässt. Denn wer den Fiskus betrügen will, den hält nichts zurück außer ein erhöhtes Entdeckungsrisiko. Darum ist jeder Steuerfahnder ein Vielfaches seines Gehaltes wert – eine Erkenntnis, die in den Vereinigten Staaten zu einer massiven Erhöhung des Fahndungsdrucks führte. Merkwürdig auch, dass trotz des Globalisierungsdrucks in den meisten Industriestaaten mehr Steuern auf Gewinne und Kapitalerträge eingetrieben werden als in Deutschland. In Großbritannien etwa entsprechen die Gewinnsteuern über sechs Prozent der Wirtschaftsleistung. Bei uns ist es fast ein Drittel weniger.

Erst recht absurd ist das Argument, die Löhne müssten sinken, weil die deutsche Industrie sonst im globalen Wettbewerb nicht mithalten könne. Tatsächlich gibt es überhaupt kein Industrieland, das mehr exportiert als Deutschland. Ein Zehntel des gesamten Weltexports kam im vergangenen Jahr von hier. Weil dieser Erfolg so gar nicht zum Standortgejammer passt, erfand Hans-Werner Sinn, Direktor des Ifo-Instituts und Chefideologe der Abbaustrategen, flugs das Stichwort von der deutschen „Basar-Ökonomie“, die ihre Exportwaren „in zunehmendem Maße nicht mehr selbst erzeugt, sondern in seinem osteuropäischen Hinterland erzeugen lässt“ – eine lächerliche These. Selbstverständlich nutzen Deutschlands Unternehmen die internationale Arbeitsteilung für den Bezug von Vorprodukten. Wie anders sollten sie sich sonst ihre Spitzenstellung erhalten? Nicht trotz, sondern wegen der geschickten Nutzung der weltweiten Vernetzung konnte die Zahl der Beschäftigten in der deutschen Automobilindustrie in den letzten zehn Jahren um 20 Prozent steigen, obwohl die Inlandsnachfrage stagniert. So haben über acht Millionen Menschen in Deutschland durch die Nachfrage im Ausland Arbeit. Unterm Strich erwirtschaften sie einen Handelsüberschuss von 90 Milliarden Euro im Jahr. Dass nun ausgerechnet ein Großökonom wie Sinn die internationale Arbeitsteilung in Frage stellt und wie die Nationalisten des letzten Jahrhunderts auf mehr Autarkie pocht, offenbart, wie tief das Niveau der wirtschaftspolitischen Debatte gesunken ist.

All das heißt keineswegs, dass nichts reformiert werden müsste, gerade in den sozialen Sicherungssystemen. So sind die hohen Sozialabgaben sehr wohl ein starkes Wachstumshindernis. Ohne sie könnte der unterentwickelte Arbeitsmarkt für personennahe Dienstleistungen – vom PC-Support bis zur häuslichen Pflege – viel rascher expandieren. Wichtigste Ursache dafür sind aber nicht überbordende Ausgaben. Der Anteil der Sozialleistungen am Bruttoinlandsprodukt ist heute genauso hoch wie 1975. Ein Strukturfehler ist vielmehr, dass ein Drittel des Volkseinkommens (Beamte, Selbständige, Rentiers) an der Finanzierung der Sozialversicherungen gar nicht beteiligt ist, weil diese fast ausschließlich über die Lohneinkommen läuft und darum wie eine Strafsteuer auf Arbeit wirkt. Darum spricht viel dafür, die Rentenversicherung wie in der Schweiz auf sämtliche Einkommen auszudehnen. Damit könnten die Beitragssätze drastisch sinken. Begünstigt wäre vor allem gering entlohnte Arbeit.

Auch bei der Reform des Arbeitsmarktes können die Erfahrungen erfolgreicher Nachbarländer nützlich sein, auf die der Bundeskanzler so gern verweist. Dabei nur die Bausteine aufzugreifen, die den Forderungen der Unternehmerverbände entsprechen, ist allerdings verlogen. Dänemark zum Beispiel hat den Kündigungsschutz radikal geschliffen. Dänische Unternehmen sind damit hochgradig flexibel. Dafür aber wird die Formel „Fördern und Fordern“ wirklich ausgefüllt. Dänische Arbeitslose erhalten bis zu 89 Prozent ihres letzten Nettoeinkommens und werden nicht nach einem Jahr zu Almosenempfängern. Vielmehr haben sie solange einen Anspruch auf Zahlung, Ausbildung und Vermittlung, bis sie wieder Arbeit haben. Darum ist die dänische Arbeitsmarktpolitik fast 40 Prozent teurer als die deutsche, und das bei nur halb so hoher Arbeitslosenquote. Dementsprechend sind die Steuern weit höher als südlich der Grenze. Vor allem aber hat sich Dänemark nicht gegen, sondern mit seinen Arbeitnehmern saniert: Die Lohneinkommen steigen seit Jahren weit über der Inflationsrate, der wachsende Reichtum aus steigender Produktivität erreicht die ganze Bevölkerung. Darum läuft die Konjunktur rund und die Staatsausgaben sind im Lot.

Dieses Ziel wird von der Mehrzahl der deutschen Radikalreformer aber gar nicht mehr verfolgt. Vielmehr propagieren sie penetrant „schmerzhafte“ Kürzungen, die nicht nur stets zu Lasten der Schwächeren gehen, sondern auch garantiert kein Wachstum bringen. Das hat den Vorteil, dass man eine höhere Dosis der gleichen unwirksamen Arznei fordern kann. So mahnte der Chef der Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, dieser Tage allen Ernstes eine nochmalige Senkung der Unternehmenssteuern an. Und Michael Rogowski, Präsident des Bundesverbandes der Industrie, erklärte, das neue Arbeitslosengeld II müsse noch einmal um 25 Prozent gekürzt werden. Wie die so dringend geforderte Bildungsreform oder die Familienförderung bezahlt werden soll, darüber schweigen sie sich aus.

So wird der Verdacht immer dringender, dass es den Apologeten des Verzichts gar nicht um wirtschaftliche Erfolge geht. Ihr Ziel ist vielmehr eine grundsätzlich andere Verteilung von Einkommen und Macht, mit der die Grenzen zwischen oben und unten endlich wieder klar definiert sind. Anders ist kaum zu erklären, dass sie ihre eigenen Bezüge am US-Vorbild orientieren, bei den Einkommen ihrer Beschäftigten aber auf Polen verweisen. Der Blick in die erfolgreichen skandinavischen Länder offenbart, wo das eigentliche Problem liegt: Dort stehen die Eliten zu ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl und den sozialen Zusammenhalt. Hierzulande strebt die Mehrheit der Gewinner eine gespaltene Gesellschaft nach angelsächsischem Vorbild an. Das aber ist ein Spiel mit dem Feuer, weil es große Teile der Bevölkerung zuerst in die Resignation und dann den rechtspopulistischen Verführern in die Arme treibt. Wie groß das Risiko ist, war Ludwig Erhard noch bewusst. Als Anfang der 50er Jahre eine Streikbewegung ausbrach, mahnte er: „Das soziale und demokratische Element unserer Wirtschaftsordnung findet seine Verwirklichung in Verteilungsgerechtigkeit. Denn die Demokratie ist noch niemals durch mächtige Organisationen vor dem Verfall bewahrt worden. Sie wird nur so lange bestehen, als sie von den Menschen mitgetragen wird.“

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