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Meinung: Wer sperrt sich gegen die Rechte der Kinder?

„Reisen ins Unbekannte“ vom 26. Oktober Werner van Bebber legt den Finger in die Wunde unserer Vorurteile, die Marias Geschichte aufgebrochen hat.

„Reisen ins Unbekannte“ vom 26. Oktober

Werner van Bebber legt den Finger in die Wunde unserer Vorurteile, die Marias Geschichte aufgebrochen hat.

Gerd Höhler beschreibt uns in derselben Ausgabe Marias Schicksal und ihre ungewisse Zukunft zeigt uns, dass wir trotz Kinderrechtskonventionen und internationalen Abkommen und Gesetzen weltweit noch sehr weit weg sind vom Kindeswohl und vom Kinderschutz. Kinder sind uns Erwachsenen hilflos ausgeliefert: Sie werden gedemütigt, missbraucht, verkauft, in den Krieg geschickt und für Medikamentenversuche benutzt. Sie werden belogen, ihnen wird ihre Herkunft verheimlicht, und im Scheidungsfall werden sie fifty-fifty auf zwei Haushalte verteilt. In Schulen werden an ihnen Reformen probiert, ihr Scheitern wird in regelmäßigen Studien veröffentlicht.

Es wird Zeit, dass wir den Fokus auf die Kinder richten, anstatt in der Psyche der Erwachsenen nach Störungen und Erklärungen für ihr Fehlverhalten zu suchen. Die Kinder von heute sind die gestörten Erwachsenen/Eltern von morgen. Im August 2013 hat Angela Merkel das „Bündnis für Kinder“ zugesagt. Ich finde, dass es längst überfällig ist, damit zu beginnen.

Marita Oeming-Schill,

Berlin-Schöneberg

Sehr geehrte Frau Oeming-Schill,

Sie haben ganz recht. In der frühen Lebensphase, in der Menschen am meisten aufnehmen, empfinden und lernen können, wird noch erschreckend wenig für sie getan.

Kinder hatten bis vor kurzem weltweit noch gar keine Rechte, sie galten mehr oder weniger als Leibeigene der Erwachsenen. Es ist, wie Sie sagen: Die Verantwortlichen der Regierungen wären verpflichtet, die Uno-Kinderrechtskonvention in die Praxis umzusetzen, und daran halten sie sich nur ungern und zögerlich. Auch hier bei uns. Das ist nicht hinnehmbar, selbst wenn es sich erklären lässt. Kinderrechte durchzusetzen kostet zunächst einmal Geld. Teuer wäre eine exzellente Ausbildung von Kita-Erziehern, Pädagogen und Familienrichtern, teuer die fachliche Fortbildung an Jugendämtern. Noch viel mehr Geld würde es kosten, das Kindeswohl, bis dato interpretierbares Rechtsgut, gesetzlich klar zu definieren. Würde festgelegt, wie viel Raum einem Kind zusteht, wie viel individuelle Aufmerksamkeit, welches Recht auf einen Garten, auf ein Musikinstrument – es ginge in die Milliarden. Kitas und Schulen müssten pädagogische Paläste werden, Familienzentren in jedem Stadtviertel Assistenz anbieten, wie es teils in Skandinavien passiert.

Aber Kinder sind keine Wähler, ihre Stimme zählt nicht. Sie haben keine Gewerkschaften und nur eine kleine Lobby. Dabei ist die Kindheit, oder, wissenschaftlich gesagt, die primäre Sozialisation, die Basis jeder Gesellschaft. Wie Sie sagen, sind die Kinder von heute die gestörten – oder eben auch die stabilen, glücklichen – Erwachsenen von morgen. Niemand würde einen Wald pflanzen, ohne Setzlingen genug Licht und Wasser zu geben. Doch was Kinder zum Gedeihen brauchen, wird noch nicht genug erkannt und berücksichtigt.

Das zu erkennen wäre nämlich nicht nur kostspielig. Es würde die Gesellschaft auch enorme, affektive Anstrengung kosten, wahren emotionalen Mut. Jeder von uns war einmal ein Kind. Erinnerungen an die Kinderzeit sind jedoch bei den meisten Leuten vage oder verdrängt. Sigmund Freud nannte dieses Phänomen Kindheitsamnesie. Sich an die Zeit der Ohnmacht und der Überwältigung durch äußere Ereignisse unter den „Riesen“ zu erinnern, kann furchtbar sein, zum Fürchten. Auch daher ist das Interesse Erwachsener, sich empathisch und realistisch mit dem Kindeswohl zu befassen oft gering. Endlich ist man ja selber Riese, und kann sich zur Kompensation den Zwergen gegenüber aufspielen, sie als Blitzableiter missbrauchen etc.

Was Kinder betrifft, ist die Gattung Mensch noch im Kindergarten, extrem jung, sehr unreif. Nur – Verzweiflung nutzt uns da gar nichts. Sie drängt uns eher selber in eine infantile Position. Besser sieht man sich an: Es ist etwas in Bewegung. Immer mehr Nationen verankern jetzt das Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung im Gesetz; bis heute sind es 34 von 193 bei der Uno registrierte Staaten. Einen einzigartigen globalen Überblick bekommt man auf dieser Webseite: http://www.endcorporalpunishment.org/

Auch Kinderarbeit, Kinderprostitution, Kinderpornografie werden zunehmend als Skandalon erkannt und nicht mehr toleriert. Oder sehen wir uns regional um: An der Freien Universität Berlin gibt es seit einigen Jahren den europäischen Masterstudiengang „Childhood Studies and Children’s Rights“. In Berlin hat die Deutsche Kinderhilfe ihren Sitz, eine der raren Organisationen, die meist Klartext wagen. Hier gibt es auch eine so wichtige Beratungsstelle zum Thema Missbrauch wie „Kind im Zentrum“, die jede Unterstützung verdient. Vorbildlich und couragiert ist die Duisburger Initiative „Riskid“ zur Vernetzung von Kinderärzten.

All das macht Hoffnung. Und vielerorts kann man ehrenamtlich aktiv werden.

PS. In einem Punkt würde ich widersprechen. Für Kinder geschiedener Eltern ist es weitaus bekömmlicher, im Wechsel zwischen zwei harmonischen Haushalten aufzuwachsen, als in einem Klima aus Missmut und Konflikt. Auch dass

Trennungen heute

besser gelingen können,

bedeutet Fortschritt für

Kinder.

— Caroline Fetscher, Autorin und Reporterin beim Tagesspiegel, beschäftigt sich seit 15 Jahren mit Menschenrechten und Kinderschutz

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