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Meinung: Wetten auf die Zukunft

Sozialprognosen für Straftäter: Wenn Psychologen zu Komplizen werden / Von Gerhard Mauz

RECHTSWEGE

Der Begriff „Sozialprognose" ist gefährlich. Er vermittelt das Gefühl, es sei möglich, weit in die Zukunft voraus zu klären, wie sich der Mensch entwickeln wird, um den es geht. In Wahrheit kann nur über die gegenwärtige Verfassung eines Menschen etwas gesagt werden. Wohin diese in der Zukunft führen kann, bleibt Spekulation.

Thomas Hirschbiegel, ein ausgezeichneter Kollege, hat in der „Hamburger Morgenpost" den Fall des Latif Özbek geschildert. Der Fall des 28 Jahre alten Mannes ist exemplarisch. Er muss über den Leserkreis der Zeitung hinaus bekannt werden.

„Knochenbrecher" ist der Spitzname des Mannes. Er soll der Kopf eines internationalen Drogenrings sein. Er verdiente mit Schutzgelderpressungen. 1998 zu fünf Jahren verurteilt, schob man ihn 1999 in die Türkei ab. Im Jahr 2000 reiste er über die Schweiz illegal wieder nach Deutschland ein. Kurz nach der erneuten Abschiebung fand er Unterstützung. Der Gefängnispastor setzte sich für ihn ein: Er sei auf einem guten Weg, sich künftig gewaltfrei zu verhalten. Auch stehe er im Begriff, sich konfliktverarbeitende Handlungsweisen anzueignen.

Ein psychiatrisches Gutachten stellte schwere Depressionen fest. Das beeindruckte die Vollstreckungskammer. Im April 2001 wurde die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt. Der geläuterte Özbek hätte nun eine Lebensperspektive, sei gar nicht mehr gefährlich und auf dem Weg zu einer straffreien Lebensführung. Zugleich erhielt er eine einjährige ausländerrechtliche Duldung. Die verstand dieser, nunmehr mit psychiatrischer Unterstützung, zu nutzen. Er setzte 60 Kilogramm Hasch ab und machte Millionengewinne.

Es ist legitim, dass die Psychowissenschaftler Menschen erklären, sie dem Verständnis zugänglich machen. Gelegentlich geraten sie dabei in eine Komplizenrolle. Nur die gegenwärtige soziale Situation kann erfasst und erläutert werden. Was aus ihr werden, wohin sie geraten kann – das entzieht sich der Einschätzung.

Die Hamburger Morgenpost spricht zutreffend von der „LatifConnection": „Der Drogenring war aufgebaut wie ein Wirtschaftsunternehmen", und „Vom Logistiker bis zum Kurier: Jeder wusste, was er zu tun hatte." Der Verdacht, der Großdealer könne mit Strafvollzugsbeamten zusammengearbeitet haben, bestätigte sich nicht.

Psychiatrie und Psychologie lassen sich missbrauchen. Und nur zu oft setzen sie das Ansehen ihrer so wichtigen Wissenschaften aufs Spiel, indem sie sich eine prognostische Fähigkeit zutrauen, die sie nicht haben können. Auch vier scharfe Schusswaffen sind jetzt sichergestellt worden. Dass Anstaltsgeistliche beschwichtigend tätig werden, wo sich Psychiatrie und Psychologie tummeln, versteht sich von selbst.

Der Hamburger Richter Seedorf, mit der Latif-Connection befasst, wurde deutlich: „Es ist Ihnen gelungen, ein Klima der Angst zu erzeugen, wie es das Gericht noch nicht erlebt hat." Wir sollen unseren ausländischen Gästen aufgeschlossen und hilfsbereit begegnen. Aber das hat da zu enden, wo, wie gesagt, die Komplizenschaft beginnt. Dafür dürfen wir nicht blind werden. Auch wenn sich Gefängnispastoren einsetzen.

Gerhard Mauz ist Autor des „Spiegel“. Foto: Dirk Reinartz

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