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Meinung: Wichtig sind wir nur als Teil Europas

Deutschland ist als Mittelmacht dazu prädestiniert, eine Brücke zwischen Ost- und Westeuropa zu bilden

Der Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Koalition umfasst 124 Seiten. Das ist viel Papier, und es sollte eigentlich reichen, einen verbindlichen Handlungsrahmen zu skizzieren. Die Koalitionsrunde in Meseberg am Dienstag und Mittwoch war der Gegenbeweis. Menschen können die gleichen Worte benutzen und dennoch nicht dasselbe ausdrücken wollen. Der Dissens in der Finanz- und Wirtschaftspolitik muss sich freilich nicht in der Außen- und Sicherheitspolitik fortsetzen. Der widmeten die Verhandlungsführer von Union und FDP zwar nur 17 Seiten, aber die scheinen auf den ersten Blick eine Fortschreibung der großen Linien zu sein, auf die sich alle Parteien verständigt haben, die bislang an Regierungen in der Bundesrepublik beteiligt waren.

Das internationale Ansehen der Bundesrepublik gründet auf ihrer Rechtstaatlichkeit, der redlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der außenpolitischen Berechenbarkeit. Keines der drei tragenden Elemente war in den vergangenen 60 Jahren jemals ernsthaft in Gefahr. Aber geprüft wurde die Standfestigkeit jeder dieser Säulen durchaus. Die Rechtstaatlichkeit in den Zeiten der Bekämpfung des deutschen Terrorismus. Die aufrechte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, als es 1990/91 noch ein letztes Mal um die unwiderrufliche Akzeptanz der deutschen Ostgrenzen ging. Die außenpolitische Berechenbarkeit durch den Stil, nicht den Inhalt, der Auseinandersetzung Gerhard Schröders mit der Irak-Politik George W. Bushs. Dabei ist es für die Selbstpositionierung Deutschlands in einer unüberschaubarer werdenden Welt durchaus vernünftig gewesen, auch gegenüber den USA an einem konkreten Punkt Eigenständigkeit zu demonstrieren. Inhaltlich wurde Schröder wohl von der gesamten deutschen Öffentlichkeit unterstützt. Dass sein Versagen in der formalen Frage des „Wie“ der Absetzbewegung von Washington in Deutschland einen ohnedies virulenten Antiamerikanismus befeuert hat, ist der bleibende Vorwurf gegen den damaligen Kanzler.

Schon in der großen Koalition hatte die deutsche Außenpolitik wieder zu ihrer traditionelle Linie zurückgefunden. Dafür standen nicht nur die Kanzlerin, sondern auch ihr Außenminister, der sich verlässlich an den bewährten Prinzipien orientierte. Angela Merkel verstand es, zu Präsident George W. Bush eine freundschaftlich-kameradschaftliche, in der Sache aber feste politische Beziehung aufzubauen, die sich wohl am deutlichsten beim G-8-Gipfel in Heiligendamm im Jahre 2007 zeigte. Zusammen mit Frank-Walter Steinmeier verkörperte sie in Europa eine für die Nachbarn beruhigende Kontinuität. Vergessen war die Zeit, in der ein grüner Umweltminister Jürgen Trittin den Franzosen schneidig die Vorteile des Atomausstiegs erklärte und Bundeskanzler Schröder über Polen und das Baltikum hinweg mit dem Kreml deutsch-russische Sonderpolitik zu machen suchte.

Im Koalitionsvertrag ist den transatlantischen Beziehungen und dem Verhältnis Deutschlands zu den USA breite Aufmerksamkeit eingeräumt, während die Beziehungen zu Russland eher knapp und dann auch fast paternalistisch als Hilfestellung bei weiteren Reformen dargestellt sind. Erfahrene Außenpolitiker im Bundestag wie der Christdemokrat Ruprecht Polenz und der Sozialdemokrat Hans-Ulrich Klose möchten aus diesen quantitativen Unterschiedlichkeiten bei der Aufmerksamkeit für beide Staaten keine Tendenz zu einer qualitativen Neubewertung der Beziehungen zwischen den Ländern ableiten. Amerika ist nun einmal für die Bundesrepublik schon von ihrer Gründungsgeschichte her der geborene Partner und Verbündete, während Russland seit dem Zerfall der Blöcke der einflussreichste Nachbar auf dem Kontinent wurde.

Dem Land ist nicht nur nach Kloses und Polenz’ Wahrnehmung durch die jüngste Wirtschaftskrise seine Abhängigkeit von der Weltwirtschaft alarmierend deutlich geworden. Anders als zu Zeiten der Sowjetunion und des Comecon kann sich Russland nicht mehr von den globalen Wirtschaftszyklen abkoppeln. Zwar hat der von der einstigen Supermacht geschickt genutzte Rohstoffreichtum ihr neuerlichen Respekt und vorübergehenden Wohlstand gebracht, aber der kam nur sehr wenigen zugute. Die breite Bevölkerung leidet unter Versorgungsengpässen, Russland selbst steckt in einer rechtstaatlichen und in einer demografischen Krise. Das Land überaltert, der Alkoholismus wird zur nationalen (Männer)tragödie. Russland ist auf Technologietransfer mehr denn je angewiesen, um seine Gesellschaft modernisieren zu können. Dafür bieten sich die europäischen Nachbarn als Partner an. Eine Aufgabe nicht nur der deutschen, sondern der sich auf der Basis des Lissabonvertrages vielleicht herausbildenden europäischen Außenpolitik wird es sein, mit Russland über dessen Rolle und seinen Platz in Europa zu sprechen. Institutionen wie der Nato- Russland-Rat mögen bei ihrer Gründung einen Sinn gehabt haben. Aber die russische Regierung sieht sich in diesem Gremium inzwischen mehr als jemand, über den erst in dessen Abwesenheit gesprochen wird, bevor man mit ihm redet. Nato, das impliziert aus russischer Sicht immer die westliche Kernfrage: Wo ist der Gegner? Um Gegnerschaft kann könne es heute aber nicht mehr gehen. Im Koalitionsvertrag wird diese russische Sorge leider nicht erkannt. Dabei könnten die EU-Russland-Kontakte über gelegentliche Gipfel hinaus ausgebaut werden.

Eine neue Basis für die Beziehungen zwischen Europa und Russland ist aber nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus sicherheitspolitischen Erwägungen zwingend. Über seine langen Grenzen und durch seine Geschichte ist Russland in viele territoriale und ethnische Konflikte entweder direkt eingebunden, oder kann zumindest bei deren Lösung aktiv mithelfen. Anders herum betrachtet: Ohne Russland sind Krisen wie auf dem Balkan, um das iranische Atomprogramm, im Nahen Osten oder im Irak nicht zu lösen.

Daraus ergibt sich, dass dieses große Land, wenn es auch keine Supermacht mehr sein sollte, neben den USA und China weiter eine entscheidende Rolle in der Weltpolitik spielen wird. Den handelnden Politikern in Moskau das Gefühl zu geben, dass ihr Land als globaler Einflussfaktor wieder ernst genommen wird, vermögen nicht die Europäer, auch wenn sie es sich manchmal einbilden. Das muss und kann nur Amerika leisten, weil nur die USA in Moskau als Gesprächspartner auf Augenhöhe wahrgenommen werden. Es ist eben auch eine Frage von Stolz und Selbstwertgefühl für ein Land, das bis zum Herbst 1989 Weltpolitik gemacht hat.

Die europäische Rolle ist eher die der guten Nachbarschaft. Keiner der EU-Staaten für sich alleine kann heute noch weltweiten Einfluss ausüben, nur gemeinsam vermag die Europäische Union vorwiegend wegen ihres ökonomischen Gewichtes auf globale Entwicklungen einwirken. Andere Kraftreserven, etwa für Frieden schaffende oder bewahrende Aktionen im Rahmen eines UN-Auftrages, muss die EU noch entwickeln. Der Lissabonvertrag führt ja nicht etwa, wie linke Kritiker anmerken, zwingend zu einer Aufrüstung und Militarisierung Europas, sondern bietet die Chancen einer sogar gegenläufigen Entwicklung. Wenn Europa unabhängig von der Nato, also ohne Amerika und Kanada, aktiv werden kann, wirkt das im Zweifelsfall deeskalierend.

Dass Deutschland bei allen Aktivitäten eine besondere Rolle zukommt, liegt nicht nur an seiner Größe und seiner wirtschaftlichen Dynamik, sondern auch an der geografischen Lage. Deutschland ist in jeder Beziehung eine Mittelmacht, geradezu prädestiniert, eine Brücke zwischen Ost- und Westeuropa zu bilden. Sowohl die Bundeskanzlerin als auch der neue Außenminister haben von Anfang an deutlich gemacht, dass sie Deutschland in der EU in einer dienenden und vermittelnden Rolle sehen. Sie knüpfen dabei an die gute Tradition aus der Ära Helmut Kohl an. Dieser Bundeskanzler pflegte vor allem die politischen Beziehungen zu den kleinen Staaten der Europäischen Union, um deutlich zu machen, dass Deutschland nie wieder in hegemonialer Weise Kontinentalpolitik machen wolle. Dass Angela Merkel nach ihrer Vereidigung unmittelbar nach Paris zu Staatspräsident Nicolas Sarkozy flog, dass Außenminister Guido Westerwelle seinen ersten Besuch Polen abstattete, um direkt danach die Niederlande, Dänemark und die Schweiz zu besuchen, zeigt die begrüßenswerte Kontinuität. Wenn die Wirtschaftskrise überhaupt einen guten Nebeneffekt hatte, dann den, dass sie auch die zur Eigenbrötelei neigenden Mitgliedsstaaten der EU brutal an ihre begrenzten Potenziale erinnerte und der Wert einer engen Zusammenarbeit deshalb neues Gewicht bekommen hat.

Deutschland kann zudem – wer, wenn nicht Deutschland? – der Interessenwalter der jungen, mittel- osteuropäischen EU-Mitglieder gegenüber dem Süden und Westen der Union sein. Gerade deshalb war ja Gerhard Schröders Versuch einer deutsch-russischen Sonderbeziehung in Polen so schmerzhaft registriert worden – und deshalb ist auch der Streit um die Rolle von Erika Steinbach im Stiftungsrat von „Flucht, Vertreibung und Versöhnung“ so kontraproduktiv, weil Frau Steinbach aus polnischer Sicht eben gerade nicht für Versöhnung steht.

Einen Fehlstart hat die neue Koalition in der Europa-Personalpolitik produziert. Da die Kanzlerin die christdemokratischen Personalprobleme in Baden-Württemberg Richtung Brüssel entsorgte, konnte sie Frank-Walter Steinmeier nicht für den Posten des EU-Außenministers vorschlagen – und in der zweiten Besetzungsreihe haben die besser vernetzten Franzosen vor einem guten deutschen Kandidaten gepunktet.

Die deutsche Außenpolitik hat über Europa hinaus Verpflichtungen in drei globalen Konfliktfeldern: in Afghanistan, im Nahen Osten und in der Irankrise. Alle drei Handlungskreise werden im Koalitionsvertrag beschrieben.

Für Afghanistan wird die bekannte deutsche Position einer internationalen Konferenz formuliert, auf der zusammen mit der Regierung des umkämpften Landes das weitere Vorgehen abgestimmt werden soll. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hat bei seiner Afghanistanreise exakt die Forderungen der Koalitionsvereinbarung an die Regierung in Kabul aufgelistet: Sie solle sich konsequenter mit Korruption und Drogenhandel auseinandersetzen und um „good governance“ bemühen, was man ganz einfach mit mehr Rechtstaatlichkeit beschreiben könnte.

In der Iranfrage fällt der Koalitionsvertrag hinter die Realität zurück. Während die internationale Diplomatie inzwischen, wenn das auch niemand ausspricht, schon davon ausgeht, dass der Weg des Iran Richtung Nuklearstaat weder militärisch noch durch Sanktionen aufzuhalten sei, hofft die schwarz- gelbe Regierung, dass die Entwicklung noch zu stoppen sei. Diplomaten und Kenner der Region regen hingegen an, mit dem Iran auch andere, ihn drückende Fragen wie die Aushöhlung der gesellschaftlichen Strukturen durch Drogen zu besprechen – Drogen, die aus Afghanistan ins Land kommen. Die Reduzierung des Irankonflikts auf die atomare Gefahr, sagen diese Experten, ermögliche es dem Präsidenten des Iran, Mahmud Ahmadinedschad, jede Opposition zu kriminalisieren, weil er sie als Helfershelfer der ausländischen Gegner eines unabhängigen Iran brandmarken könne.

Nationaler Konsens ist die im Koalitionsvertrag beschriebene deutsche Verantwortung für Israel. Auch hier kann Deutschland, dem zu einer militärisch untermauerten Existenzgarantie für den jüdischen Staat das Potenzial fehlt, vor allem diplomatische Unterstützung auf beiden Seiten anbieten. Immerhin haben die deutschen Dienste beim Austausch Gefangener im Stillen beachtliche Erfolge erzielt, und unvergessen sowohl auf arabischer als auch israelischer Seite sind die vielfältigen Bemühungen des damaligen Außenministers Joschka Fischer, sich als ehrlicher Makler anzubieten.

Dass das Kapitel Außen- und Sicherheitspolitik mit der Warnung endet, die Hilfe für Entwicklungsländer würde nur nach strengen, transparenten Vergabekriterien gewährt, ist zwar sachlich zu begründen, aber eben auch leider ziemlich platt. Als Koalition der Buchhalter wollen sich Union und FDP in der internationalen Politik hoffentlich keinen Namen machen, gerade, nachdem sie sich schon in der Innenpolitik nur mühsam auf Zahlen einigen können.

Gerd Appenzeller

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