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Meinung: Wie seriös sind Studien über antisemitische Einstellungen?

„Antisemiten werden aggressiver“ vom 8. Dezember Was man dem Rabbiner Alter und seiner Familie angetan hat, ist schlimm.

„Antisemiten werden aggressiver“ vom 8. Dezember

Was man dem Rabbiner Alter und seiner Familie angetan hat, ist schlimm. Es macht wütend. Jeder von uns ist aufgerufen, Antisemitismus im Alltag, auch den verbalen, zu bekämpfen. Weghören und Wegschauen darf es nicht geben, schon gar nicht in Berlin. Ärgerlich ist es aber, wenn Herr Alter mit Zahlen kommt und seine Quellen nicht klar bezeichnet. Er spricht vage von „verschiedenen Studien“. Angeblich seien danach 20 Prozent der Deutschen latent antisemitisch, und bei 30 Prozent (!) der Bevölkerung gehörten antisemitische Ressentiments zum Weltbild. Ich glaube diese Zahlen nicht und würde gerne die Studien sehen, auf die sich Herr Alter bezieht und auch die Fragen lesen, die man darin gestellt hat.

Es hat für mich keinen Sinn, wenn wir, auch nach einer solch schändlichen Attacke auf einen jüdischen Mitbürger, zu vermeintlich fundierten Verallgemeinerungen greifen und damit ein unzutreffendes Bild der heutigen deutschen Gesellschaft zeichnen. Damit ist niemandem geholfen.

Thomas Knuth, Berlin-Wilmersdorf

Selbstverständlich steht es jedermann frei, Zweifel an Umfrageergebnissen zu hegen, deren Messbarkeit und Analyse, wegen der unterschiedlichen Indikatoren antisemitischer Einstellungen, nicht immer ganz einfach sind. Allerdings sollte es sich hier nicht um eine Frage des Glaubens handeln, sondern vielmehr um eine Auseinandersetzung mit Ergebnissen einer Reihe von repräsentativen Umfragen, die von seriösen Wissenschaftlern bzw. Institutionen und ihren Projekten, wie etwa dem zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (GMF) des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, durchgeführt werden. In den letzten mehr als 20 Jahren sind mehrere voneinander unabhängige Erhebungen zu dem Ergebnis gekommen, dass zwischen 15 und 20 Prozent der deutschen Bevölkerung antisemitische Einstellungen hegen. Die Befragungen werden überwiegend in Form von Telefoninterviews durchgeführt, sind also nicht anonym. Insofern ist davon auszugehen, dass manche Interviewpartner in ihrem Antwortverhalten Rücksicht auf soziale Erwünschtheiten nehmen und zurückhaltend auf solche Aussagen reagieren, die als antisemitisch konnotiert wahrgenommen werden. Dies wiederum kann bedeuten, dass der tatsächliche Wert antisemitischer Haltungen eher als noch höher einzustufen ist.

Antisemitische Einstellungen werden mithilfe von Aussagen bzw. Items erhoben, die von den Befragten anhand einer mehrstufigen Skala von Zustimmungen/Ablehnungen zu beantworten sind. Zu den abgefragten Items gehören etwa „Juden haben zu viel Einfluss in Deutschland“ (2010 stimmten eher bzw. voll zu: 16,5 Prozent/GMF, siehe auch im Folgenden); „Durch ihr Verhalten sind Juden an ihrer Verfolgung mitschuldig“ (2010: 12,6 Prozent); „Viele Juden versuchen aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen“ (2010: 39,5 Prozent); „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“ (2010: 38,4 Prozent); „Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“ (2010: 57,3 Prozent); „Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip nichts anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben“ (2008: 40,5 Prozent; 2010 nicht erhoben). Die ALLBUS-Studie berechnete aufgrund von drei Fragen und einer siebenstufigen Skala von Zustimmungen/Ablehnungen einen Antisemitismus-Index, demzufolge 1996 18 Prozent und 2006 22,6 Prozent der Befragten als Personen mit antisemitischer Haltung eingestuft wurden. Eine Forsa-Studie von 1998 ergab, dass 20 Prozent der Befragten als zumindest latent antisemitisch zu kategorisieren seien. Die alle zwei Jahre durchgeführten Untersuchungen des Forscherteams der Universität Leipzig um Oliver Decker und Elmar Brähler zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland ergaben ähnliche Werte. In der Regel bleiben solche judenfeindlichen Dispositionen latent, d. h. sie werden allenfalls unterschwellig und in subtiler Weise nach außen getragen. In den letzten Jahren dient hier häufig Israel stellvertretend für „die Juden“ und wird als Plattform genutzt, judenfeindliche Ressentiments zu äußern. Dies schlägt sich auch in Umfrageergebnissen nieder, wenn Items, die im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt stehen, eine höhere Zustimmung aufweisen. Manifester Antisemitismus, d.h. jene Formen, die in tätlichen oder verbalen Übergriffen auf Juden oder Personen, die als solche wahrgenommen werden bzw. deren Institutionen münden, finden sich heute vorwiegend im rechtsextremen und islamistischen Spektrum. Der vom Deutschen Bundestag 2009 eingesetzte „Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus“ hat die verschiedenen demoskopischen Erhebungen der letzten Jahre in seinem Bericht über die Lage des Antisemitismus in Deutschland zusammengefasst und noch einmal auf eine Latenz antisemitischer Einstellungen von 15 bis 20 Prozent hingewiesen. Insofern sind die Aussagen in Bezug auf den Prozentsatz der Verbreitung antisemitischer Einstellungen von Rabbiner Alter im Interview des Tagesspiegels keine Verallgemeinerungen, sondern entsprechen den Ergebnissen der empirischen Forschung.

— Dr. Juliane Wetzel, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin

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