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Winterwetter: Der Schnee von gestern

Wir haben inzwischen zwei Wetter: einmal das von Menschen verursachte globale Kyoto-Kopenhagen-Wetter und dann das traditionelle Schicksalswetter. Der Mensch will vieles seinem Gestaltungswillen unterwerfen, der Schneefall bringt ein wenig das Schicksal zurück.

Hurra! Die anhaltende Kältewelle gibt Anlass zur Hoffnung, dass die Klimakatastrophe doch erst nach dem Weltuntergang eintritt. Was ist das – Zynismus, Optimismus, Realismus? Oder einfach nur Blödsinn? Zumindest macht der Satz ironisierend darauf aufmerksam, dass wir inzwischen zwei Wetter haben, einmal das von Menschen verursachte globale Kyoto-Kopenhagen-Wetter und dann das traditionelle Schicksals-Wetter, mit dem sich der Mensch arrangieren muss, weil es sich seiner Gestaltung entzieht. „Heute kann es regnen, stürmen oder schnein“, singen Kinder zum Geburtstag. Das Schicksals-Wetter ist das uns vertraute, es ist uns emotional näher als das andere. Mit dem Schicksals-Wetter hatten wir immer schon zu kämpfen, ob auf Hoher See oder in der Landwirtschaft, ihm verdanken viele Kulturen den Glauben an einen Wettergott. Das Schicksals-Wetter hat uns Demut gelehrt.

Das war einmal. Auch dem Wetter will der Mensch sich nicht länger unterwerfen. Er hat es aufgenommen in seine Allmachtsfantasien. Von vielen Dingen haben wir inzwischen zwei. Liebe, Krankheit, Tod, Wetter. Die Urform war stets mit dem Zufälligen, Schicksalhaften, Unabänderlichen verbunden. In der modernen Form überwiegt statt dessen das Bedürfnis nach ursächlicher Verantwortung, nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Wer die Liebe seines Lebens sucht, wendet sich an die Kontaktbörse und hofft auf eine möglichst große Schnittmenge an Kompatibilität. In unserer fast maßlosen Angst vor pandemischen Krankheiten – Vogelgrippe, Sars, Schweinegrippe – denken wir uns immer neue Vorsichtsmaßnahmen aus. Wen es dann trotzdem trifft, hat selbst Schuld. Und die Kunst des Sterbens, die ars moriendi, hat sich in die Fertigkeit verwandelt, den Schlusspunkt unter das eigene Leben selbst zu setzen. Wir sind der Souverän, der Schöpfer hat abgedankt.

Vielleicht schlittert der Mensch mit dieser Wahrnehmung in eine moralische Schieflage, fühlt sich zu sehr verantwortlich für Ereignisse, die er bloß sehr begrenzt beeinflussen kann, und zu wenig verantwortlich für die Not des Nachbarn. Es ist doch seltsam: Wir beschäftigen uns intensiver mit den Folgen einer möglichen globalen Erderwärmung im Jahre 2050 als mit der Frage, wie wir das Los der frierenden Obdachlosen in Berlin lindern können. Jede neue Impfempfehlung zur Schweinegrippe wird länger studiert als das tröstende Telefonat mit einem erkrankten Bekannten dauern würde. Von dem Philosophen Hans Jonas stammt der Begriff der „Fernethik“. Sie darf die Nahethik nie ersetzen, sondern muss sie allenfalls ergänzen.

Der Schnee bringt in gewisser Weise das Schicksal zurück. Er belebt das Gefühl für die nicht vollständige Beherrschbarkeit der Grundlagen unserer Existenz wieder. Wie bringt man Gott zum Lachen, fragt der Theologe. Indem man einen Lebensplan macht. Und Albert Einstein hat klug postuliert, was auch für Nichtreligiöse verständig klingt: „Falls Gott die Welt geschaffen hat, war seine Hauptsorge sicher nicht, sie so zu machen, dass wir sie verstehen können.“ Das gilt für Liebe, Krankheit, Tod, Wetter. Und für viele andere Ereignisse, die der Mensch so gern dem eigenen Gestaltungswillen unterwerfen möchte. Der Schneefall verschafft diesem Drängen eine wohltuende Pause. Morgen wird’s der Schnee von gestern gewesen sein.

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