zum Hauptinhalt

Meinung: Wir betrauern nicht nur die eigenen Opfer

Die Vertriebenen können die internationale Beratung für ihr Projekt in Berlin noch verstärken

Vertreibungen – also ethnische Säuberungen – sind Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das ist keine Entwicklung des Völkerrechts aus den allerletzten Jahren. Schon das Internationale Militärtribunal von Nürnberg hatte so entschieden, 1945, bezogen auf die Vertreibungen der Nazis. Diese Entscheidung wurde von der UNGeneralversammlung am 11. November 1946 bestätigt. Im Jahr 1950 wurden die Nürnberger Prinzipien von der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen kodifiziert.

Trotzdem sind Vertreibungen nicht nur böse Vergangenheit. Das Kroatien Franjo Tudjmans vertrieb 200 000 Kraijna-Serben. Der Serbe Miloševic vertrieb Hunderttausende Kosovo-Albaner, bis ihm die Nato in den Arm fiel. Saddam Hussein vertrieb Hunderttausende irakische Kurden. Vertreibung ist ein aktuelles Problem – und es ist immer eine Konsequenz von Nationalismus, also von pervertierten Zugehörigkeits- und Loyalitätsgefühlen. Gegen Nationalismus und Vertreibung muss man kämpfen. Deshalb habe ich mich dazu bereit erklärt, in der Stiftung der deutschen Vertriebenen „Zentrum gegen Vertreibungen" als einer von zwei Vorsitzenden mitzuarbeiten.

Wir wollen kein „nationales Projekt". Eine Gedenkstätte, die nur die eigenen Landsleute – die Vertriebenen und die Erschlagenen oder Verhungerten – betrauerte und sich nicht gleichzeitig damit beschäftigte, wie es zu der Vertreibung von 15 Millionen Deutschen ab Winter 1944/45 kam, wäre einäugig. Einäugig wäre auch eine Konzentration auf die Vertreibungsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg. Es gab schon vorher fürchterliche „Umvolkungen" und „Abschübe"; und es gibt sie bis in die letzten Tage. Das „Zentrum gegen Vertreibungen" soll sich mit all diesen mörderischen Gewaltanwendungen befassen – und gegen sie kämpfen.

Dieser Kampf muss allerdings pragmatisch angepackt werden. Man kann sich nicht mit allen ethnosozialen Konflikten weltweit gleichgewichtig befassen; die Forscher haben seit den sechziger Jahren 54 gezählt. Die Konzentration auf Europa ist zwingend. Man kann das Projekt auch nicht als Haupt- und Staatsaktion planen; Verhandlungen auf staatlicher Ebene, sagen wir zwischen Deutschland, Polen, der Tschechischen Republik (aber warum nicht Ungarn, Rumänien und Kroatien?) würden ewig dauern. Es war also eine private Initiative notwendig, wie Erika Steinbach und ich sie ihm Jahr 2000 ergriffen haben.

In unserem Wissenschaftlichen Beirat und in der Jury des von uns ins Leben gerufenen Franz-Werfel-Menschenrechtspreises sind verschiedene Repräsentanten unserer Nachbarvölker vertreten. Man kann diese „internationale" Repräsentanz noch verstärken. Man kann – zum Beispiel wenn sich Bund und Länder an der Finanzierung der Stiftung beteiligen sollten – auch über eine Neukonstruktion der Trägerschaft reden. Aber man sollte nicht versuchen, mit utopischen Konzepten das ganze Projekt totzuschlagen.

Wenn ein Deutscher vorschlägt, ein Zentrum gegen Vertreibungen in Breslau zu begründen, übernimmt er sich, und zwar auch dann, wenn ihn einige polnische Intellektuelle unterstützen. Er bräuchte die Zustimmung der politischen Öffentlichkeit Polens. Die ist nicht in Sicht. Käme sie zu Stande, könnte ein deutsches Zentrum gegen Vertreibungen mit Breslau wunderbar kooperieren.

Wenn wir die Deutschen dazu bringen wollen, über Vertreibungen nachzudenken, gegen neuerliche Vertreibungen zu kämpfen und die Opfer der Vertreibungen zu betrauern, dann müssen wir das schon in Deutschland tun: im Zentrum des Landes, nicht in Buxtehude, Freilassing oder Wunsiedel.

Und wir sollten fair sein: Wer über Vertreibung arbeiten will und die Vertriebenen und ihre Verbände als „Interessenten" ausgrenzen möchte, treibt diese Verbände in die Ecke zurück, aus der sie sich gerade herausbewegt haben. Die Behauptung, die Frage sei so sensibel, dass sie nur Geschichtsprofessoren, Schriftstellern und Akademikern überlassen werden dürfte, ist im Übrigen absonderlich. Allüberall wird verlangt, man solle die „Betroffenen" hören. Hier sollen wir die „Betroffenen" wegschieben? Wieso?

Ich kann durchaus verstehen, dass Polen und Tschechen unsere Initiative aufmerksam und gelegentlich mit Sorge beobachten. Ich bin ja auch besorgt, wenn das tschechische Parlament mit großer Mehrheit beschließt, dass Edvard Beneš, der Organisator jener großen ethnischen Säuberung in den böhmischen Ländern, mit dem selben Satz geehrt werden soll, mit dem der nun wahrlich große Tomaš Masaryk zu seinem 80. Geburtstag geehrt wurde: Er habe sich um das Vaterland verdient gemacht. Aber solche Sorgen kann man nur durch offene Diskussion ausräumen, da wie dort. Solche Diskussionen soll das „Zentrum gegen Vertreibungen" führen, und zwar unter Beteiligung aller Betroffenen und unter Berücksichtigung aller Vor- und Nachgeschichten.

Der Vorwurf, das „Zentrum gegen Vertreibungen" sei ein nationales Projekt, ist falsch. Das zeigt übrigens die erste Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises. Die Jury dieses Zentrums hat die Preise für das Jahr 2003 an das Institut für Genozidforschung an der Universität Bochum unter Leitung des Armeniers Miran Drabag und an die Initiative „Versöhnungskreuz" der tschechischen Stadt Teplice nad Metui vergeben. Laudator für Miran Dragab war der Überlebende von Auschwitz, Ralf Giordano. Er hat sich übrigens geweigert, Markus Meckels Resolution gegen das „Zentrum gegen Vertreibungen" zu unterschreiben.

Der Autor stammt aus Eger (Sudetenland), ist Kovorsitzender der Vertriebenen-Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ und war von 1981 bis 1987 Bundesgeschäftsführer der SPD. Im September erscheint sein Buch „Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück."

-

Zur Startseite