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Wirtschaftsmacht: Chinas Wachstum steigt in schwindelerregende Höhen

China überholt Deutschland als drittgrößte Wirtschaftsmacht – der Boom ist riskant

In anderen Ländern träumt man von solchen Wachstumszahlen. Um 11,9 Prozent legte Chinas Wirtschaft im zweiten Quartal zu – so schnell wie seit zwölf Jahren nicht mehr. Im ersten Halbjahr betrug das Wachstum 11,5 Prozent. Damit ist die Volksrepublik auf dem besten Weg, Deutschland als drittgrößte Wirtschaftsnation der Erde abzulösen. Manche Experten glauben, dass China diesen Platz schon heute hat. Nur die Volkswirtschaften in den USA und Japan sind noch größer.

Doch zum Feiern dürfte Pekings KP-Führen nicht zumute sein. Einigen Ökonomen in der Regierung ist die rasant wachsende Wirtschaft nicht mehr geheuer, sie befürchten eine Überhitzung. Im Juni stieg den offiziellen Zahlen zufolge die Inflation auf 4,4 Prozent – der höchste Stand seit drei Jahren. Spekulationen im Immobilienmarkt haben dafür gesorgt, dass in vielen Städten neu gebaute Hochhäuser leer stehen. Turbulenzen drohen auch am Aktienmarkt, der auf immer neue Rekordhöhen steigt. Bis zu 400 000 Chinesen richten jeden Tag neue Aktiendepots ein, weil sie davon träumen, über Nacht reich zu werden.

Nach drei Jahrzehnten Öffnungspolitik treten zudem die gesellschaftlichen und ökologischen Probleme der raschen Industrialisierung immer offener hervor. 20 der 30 weltweit am stärksten verschmutzten Städte liegen nach Angaben der Weltbank in China. Allein in Peking werden jeden Tag 1000 neue Autos zugelassen. Weil man immer neue und immer tiefere Brunnen bohrt, drohen riesige Gebiete in Nordchina zu verwüsten. Soziale Spannungen nehmen zu. Während in den Städten die Gehälter steigen und viele sich Auslandsreisen und teure Autos kaufen können, fühlen sich die Bauern und Wanderarbeiter als Verlierer. Viele von ihnen können sich nicht einmal einen Arztbesuch leisten.

Mit der Formel „Reich werden ist ehrenhaft“ hatte Ende der siebziger Jahre der Reformpolitiker Deng Xiaoping die Öffnungspolitik gestartet. Seitdem galt nur eine Maxime: Wachstum, Wachstum, Wachstum. Zuerst wurde die kollektive Landwirtschaft zerschlagen, um die Nahrungsmittelproduktion anzukurbeln. In den neunziger Jahren brach man den Staatssektor auf und privatisierte einen Großteil der Staatsunternehmen. Billige Arbeitslöhne, laxe Umweltauflagen und der riesige Binnenmarkt lockten ausländische Firmen an. „Made in China“-Produkte eroberten die Welt.

Offiziell nennt sich China bis heute kommunistisch. In Wirklichkeit ist das Land jedoch ein Paradies für Kapitalisten. Weil die lokalen Kader weiter allein auf Wachstum setzen – und korrupte Beamte in die eigene Tasche wirtschaften –, müssen sich die Fabriken weder um Umweltauflagen noch um Arbeitnehmerinteressen kümmern. Unabhängige Gewerkschaften sind verboten. Wenn Zeitungen über den Umweltskandal in der örtlichen Fabrik berichten wollen, erlässt der Parteisekretär einfach eine Zensuranweisung.

Vor einigen Wochen sorgte ein Fall von Arbeitern, die in Ziegelsteinfabriken ausgebeutet wurden, für Empörung. Die 31 Männer und Jugendlichen, die Ende Mai in der Provinz Shanxi von der Polizei befreit wurden, seien von den Managern der Firma wie Sklaven gehalten worden, berichteten chinesische Medien. Eingesperrt und bewacht von Hunden, mussten sie täglich bis zu 18 Stunden schuften.

Vor dem großen Parteitag im Herbst, bei dem die Politik der nächsten fünf Jahre festgelegt wird, nimmt die Kritik zu. Eine Gruppe von 17 Parteiveteranen wirft Staats- und Parteichef Hu Jintao in einem offenen Brief, der auf Internetseiten kursiert, Verrat am Kommunismus vor. Durch die bedingungslose Privatisierung der Industrie sei das Land vom „korrekten Weg abgekommen“, heißt es in dem von ehemaligen Regierungskadern, Militärs und Akademiker unterzeichneten Schreiben.

Auch wenn die Altlinken kaum noch Einfluss haben, dürfte ihre Kritik Gehör finden. Pekings Führer haben erkannt, dass Wachstum alleine nicht die Probleme löst. Unter dem Schlagwort der „harmonischen Gesellschaft“ versucht Hu Jintao bereits, die Wirtschaft behutsam in sozialere und ökologischere Bahnen zu lenken. Falls ihm das nicht gelingt, zerbricht der Boom an seinen Nebenfolgen.

Harald Maass

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