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Wissenschaftskolumne: Der nächste GAU kommt bestimmt

Anders als Deutschland ist die Welt weit davon entfernt, sich von der Atomenergie zu verabschieden. Weitere Katastrophen sind nur eine Frage der Zeit. Wir müssen uns darauf vorbereiten.

Kollektive Ängste haben eine kurze Halbwertszeit. In Woche sechs des Reaktorunglücks von Fukushima ist die globale Entrüstung bereits weiter abgeklungen als das freigesetzte Jod-131, die Nervosität der ersten Tage hat sich in abgeklärte Katastrophenroutine verwandelt.

Auch die Meldungen aus Japan klingen zunehmend beruhigend. Seit den Explosionen Mitte März ist kaum noch Radioaktivität in die Atmosphäre entwichen, die Strahlung in der Sperrzone nimmt kontinuierlich ab. Vor Ort sind nun endlich ferngesteuerte Roboter im Einsatz, seit gestern wird das radioaktive Wasser aus den Reaktorgebäuden in einen Tank gepumpt. Am Sonntag legte der Kraftwerksbetreiber Tepco erstmals einen Plan vor, der die sichere „Kaltabschaltung“ der havarierten Reaktoren bis Jahresende vorsieht. Weil „keine weitere Verschlimmerung zu erwarten“ ist, zieht die US-Marine ihre Spezialeinheit für Strahlenunfälle ab.

Diese Refraktärzeit für Katastrophenstimmungen ist der perfekte Augenblick, um wieder für Atomkraft zu werben. Die ukrainische Regierung will ausgerechnet den 25. Jahrestag des Unglücks von Tschernobyl zu einem Fest der Kernenergie machen. Seit gestern läuft in Kiew der „Gipfel zur innovativen und sicheren Nutzung von Atomenergie“, dessen Ergebnis der ukrainische Vizewirtschaftsminister Pyatnitsky bereits zusammenfasste: „Es geht nicht darum, die Atomenergie aufzugeben, sondern darum, wie ihre Nutzung wirklich sicher werden kann.“ Der Mann gibt die Stimmung leider richtig wieder, zumindest was die Welt außerhalb Deutschlands betrifft. Richtig ist auch die verräterische Zeitenfolge: Wirkliche Sicherheit kann es vielleicht in der Zukunft geben, bis dahin sollen die Reaktoren einfach weiterlaufen.

Dass man weitere Katastrophen verhindern könnte, indem man die Ursache einer vorangegangenen beseitigt, ist jedoch ein Irrglaube – jede echte Katastrophe ist einzigartig, sonst wäre sie nicht eingetreten. Davon abgesehen hat die Nuklearindustrie bisher nicht einmal aus den größten Unglücken die Konsequenzen gezogen: Von den zehn gebauten RBMK-Reaktoren der zweiten Generation („Tschernobyl-Typ“) sind in Russland noch immer sechs in Betrieb, zusätzlich laufen noch drei Oldtimer der ersten RBMK-Generation. Nach dem GAU von Harrisburg (1979) wurden amerikanische Akw zwar mit Radioaktivitätsfiltern an den Druckablassventilen und Systemen zur Verhinderung von Wasserstoffexplosionen nachgerüstet. In Fukushima fehlte jedoch beides, was die aktuelle Katastrophe zumindest mitverursacht hat.

Angesichts rund 443 laufender und 135 in Bau oder Planung befindlicher Akw steht so gut wie fest, dass es nach Tschernobyl und Fukushima weitere Nuklearkatastrophen der höchsten Stufe geben wird. Für Deutschland und die Welt ist es höchste Zeit, sich auf den Ernstfall Nummer drei vorzubereiten. Doch was bedeutet das konkret?

Wie Fukushima zeigt, ist selbst ein hoch entwickelter Industriestaat mit einem Super-GAU überfordert. Eine internationale Eingreiftruppe, etwa unter Leitung der Atombehörde IAEO, ist deshalb dringend vonnöten. Diese muss über Fachleute und Spezialgeräte wie ferngesteuerte Roboter verfügen – einfach einige Hunderttausend „Liquidatoren“ in die Strahlenhölle zu schicken, ist in demokratischen Staaten keine Option (sonst wäre Fukushima wahrscheinlich längst abgedichtet). Die IAEO sollte auch Standards entwickeln, nach denen die Mitgliedsstaaten für jedes Akw Evakuierungspläne der 80-Kilometerzone aufstellen. Diese Aufgabe kann nur durch einen globalen Fonds geleistet werden, der auch im Falle eines Super-GAUs einspringt.

Deutschland sollte sich an der Super-GAU-Feuerwehr in führender Rolle beteiligen – so kann das vorhandene Know-how auch nach dem Ausstieg aus der Kernenergie sinnvoll genutzt und weiterentwickelt werden. Die Finanzierung des Fonds dürfte für die Energiekonzerne kein Problem sein: Im Gegensatz zu kollektiven Ängsten neigt der Einfluss der Atomlobby nicht dazu, mit kurzer Halbwertszeit zu zerfallen.

Der Autor ist Mikrobiologe und Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung in Halle.

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