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Eine deutsche und eine türkische Fahne wehen in Berlin während der Fußball-Europameisterschaft an einem Auto.

© dpa

Wulff in der Türkei: Die Angst vor dem Fremden ist stärker

Charmeoffensive vor Wulffs Ankunft in Ankara: Spitzenpolitiker appellieren, die Türken in Deutschland sollten Deutsch lernen und sich möglichst gut integrieren. Aber auch Erdogan und Gül werden den deutschen Gast auf etwas hinweisen.

Wenn türkische Diplomaten von Nicolas Sarkozy reden, dem schärfsten Gegner des türkischen Beitrittsantrags in der EU, dann äußern sie oft einen sehnlichen Wunsch: Dass der französische Präsident doch bitte einmal die Türkei besuchen möge und mit eigenen Augen sähe, wie sehr die Realität im Land jenem Bild widerspreche, das er mit sich herumtrage. Bei Christian Wulff werden die Türken möglicherweise nicht ganz so viel Überzeugungsarbeit leisten müssen. Doch auch beim fünftägigen Staatsbesuch des Bundespräsidenten gilt in Ankara das Sarkozy-Prinzip: Der Staatsschef, und mit ihm eine größtenteils skeptische deutsche Öffentlichkeit, sollen erfahren, dass die Türkei anders ist als so mancher glaubt.

Präsident Abdullah Gül und andere Spitzenpolitiker wie EU-Minister Egemen Bagis haben mit der Charmeoffensive schon vor Wulffs Ankunft in Ankara begonnen. Ihre Appelle, die Türken in der Bundesrepublik sollten Deutsch lernen und sich möglichst gut integrieren, hat viele Deutsche überrascht. Auch Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sagte bei seinem Besuch in Berlin zu, er wolle bei der Intergrationsarbeit mithelfen. Dabei haben viele Deutsche noch Erdogans Warnung von 2008 im Ohr, als er vor einer „Assimilierung“ der Türken warnte und diese als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ geißelte.

Als damals in Deutschland ein Sturm der Entrüstung losbrach, klagten Erdogans Berater, der Premier sei doch auch der Meinung, dass Integration wichtig sei. Tatsächlich verstellte Erdogans rhetorischer Ausrutscher den Blick auf die an sich vernünftige Haltung Ankaras in der Integrationsfrage. Je besser sich die Türken in die deutsche und andere europäische Gesellschaften eingliedern, desto günstiger ist das für die Türkei und ihr Image in der EU, lautet das Motto. Das wird auch Wulff zu hören bekommen.

Aber Erdogan und Gül werden den deutschen Gast auch darauf hinweisen, dass Integration keine Einbahnstraße ist. Der Bundespräsident hat für seine Aussage zur Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland in der Türkei viel Lob, aber in der Bundesrepublik viel Schelte bekommen. Am Bosporus fragt man sich, wie die scharfe Kritik an Wulff und die Forderung nach einem Zuwanderungsstopp für Türken und Araber aufgrund ihrer Herkunft aus einem „anderen Kulturkreis“ mit dem Integrationsgedanken zu vereinbaren ist. Regierungsmitglieder zeigen sich besorgt angesichts der rechtspopulistischen Welle in Westeuropa.

Deutsche wie Türken werden deshalb genau zuhören, was Wulff in seiner Rede vor dem türkischen Parlament, der ersten eines deutschen Staatsoberhauptes, zum Themenkomplex Integration und Islam sagen wird. Es könnte über Erfolg oder Misserfolg der Reise entscheiden.

Das gilt auch für das zweite Hauptmotiv der Reise: die Religionsfreiheit. Der Bundespräsident nimmt an einem ökumenischen Gottesdienst im südtürkischen Tarsus teil und er trifft den griechisch-orthodoxen Patriarchen von Konstantinopel. Die Christenvertreter werden ihm einiges erzählen können über die Schwierigkeiten, mit denen sie zu kämpfen haben, vom fehlenden Rechtsstatus bis zum Verbot der Priesterausbildung, von den Morden an katholischen, protestantischen und armenischen Christen in den vergangenen Jahren ganz zu schweigen. Wenn Gül, Erdogan und die anderen Regierungspolitiker Wulffs Äußerungen über den Islam beklatschen, müssen sie sich auch fragen lassen, wie es mit dem Verhältnis der Türkei zum Christentum aussieht. Erdogans islamisch-konservative Regierung hat mehr für die religiösen Minderheiten im Land getan als alle angeblich so laizistischen Regierungen vor ihr. Doch das Ergebnis ist immer noch eines modernen Rechtsstaates unwürdig.

Das liegt zum Teil an Bedrohungsvorstellungen in der Bevölkerung sowie an Populismus und wahltaktischen Überlegungen bei den Parteien – Faktoren also, die stark denen in der deutschen Islam-Debatte gleichen. Vorurteile, Verschwörungstheorien und die Angst vor dem Fremden sind nicht nur in der Türkei mitunter stärker als Toleranz und Vernunft.

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