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Meinung: Zeit für eine außenpolitische Debatte

Angela Merkel hat eine Standortbestimmung des Landes vorgenommen Von Hans-Dietrich Genscher

Die Stichworte Familienpolitik, Energiepolitik und Krankenversicherungsreform zeigen, dass ein freundliches Klima, ein langes Koalitionspapier und ein Wochenende in Genshagen Probleme nicht unbedingt lösen. Sie zeigen auch, eine Koalition ist nicht schon deshalb eine große, weil sie auf dem Papier eine große Zahl von Abgeordneten hinter sich hat. So wird 2006 zum Schicksalsjahr der schwarz- roten Koalition werden und damit auch für unser Land.

Ganz anders ist die bisherige Regierungsbilanz in der Außenpolitik. Mit wenigen wichtigen Zügen hat die Bundeskanzlerin die Standortbestimmung des vereinten Landes in jahrzehntelanger Kontinuität der Fixpunkte der deutschen Außenpolitik vorgenommen. Eine kluge Auswahl von Reisezielen und -terminen hat die richtigen Akzente gesetzt. Mit ihrem persönlichen Erfolg beim Europäischen Rat hat sie die notwendige und traditionell von den Partnern gewünschte Rolle Deutschlands übernommen und die Erwartungen mit einem erfolgreichen Abschluss erfüllt. Die Besuche in Paris und Warschau haben den Gedanken an die gemeinsame Verantwortung dieser drei schicksalhaft miteinander verbundenen europäischen Völker im Geiste des Weimarer Dreiecks neu belebt. So wie die deutsch-französische Partnerschaft hat im größeren Europa die Partnerschaft Paris, Berlin und Warschau keineswegs eine dominierende, wohl aber eine aktivierende Funktion.

Bei Merkels Besuch in Washington haben beide Seiten die deutsch-amerikanische Freundschaft und Partnerschaft neu belebt. Auch in Washington hat man wieder erkannt, dass das europäische Deutschland gewiss nicht der willigste, wohl aber der wichtigste europäische Verbündete der USA ist. Maßgeblich für die neue Sicht in Washington war wohl auch die Erfahrung, dass eine Koalition der Verantwortlichen und der Fähigen allemal besser ist als eine Koalition der Willigen oder gar Willfährigen, und dass auch ein großes Land wie die USA gleichberechtigte und ebenbürtige Partner braucht. So war es in der Vergangenheit und das ermöglichte auch früher das offene Wort unter Freunden, wie jetzt den Hinweis auf die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit auch im Kampf gegen den Terrorismus. Das offene Wort in Washington bereitete auch den Boden für eine ehrliche und offene Aussprache in Moskau. Für das Ergebnis des Besuches in Moskau war die Einschätzung der Partnerschaft mit Russland als einer strategischen wichtig – und das gleichermaßen wirtschaftlich wie politisch. Auch das liegt in der Kontinuität deutscher Außenpolitik, genauso wie übrigens auch die Besprechung kontroverser Fragen. Das galt auch für die oft schwierigen damals deutsch-sowjetischen Beziehungen; heute haben die deutsch-russischen Beziehungen eine neue durch größere Übereinstimmung gekennzeichnete Qualität. Mit dem Festhalten an der Gasleitung bekräftigte die Bundeskanzlerin Berechenbarkeit und Verlässlichkeit deutscher Außenpolitik. Durch ihr Werben um Verständnis für die Besonderheiten der russischen Geschichte hat die Bundeskanzlerin eine Rolle übernommen, die Deutschland auch in der Vergangenheit immer wieder mit Erfolg ausgeübt hat.

Nimmt man die Begegnungen mit der italienischen Regierung, mit den Regierungen aller Nachbarstaaten und den Neujahrsbesuch bei der österreichischen EU-Präsidentschaft hinzu, so kann man sagen: Der Boden ist bereitet.

2006 ist ein Konzept deutscher Außen- und Europapolitik im Zeitalter der Globalisierung notwendig. Wichtig ist dafür ein möglichst breiter öffentlicher Konsens, lange Zeit eine Stärke deutscher Außenpolitik. Anzumerken bleibt: Die vielen willkommenen und nicht willkommenen öffentlichen Berater der Regierung sollten dieser, wie jeder demokratischen Regierung, den notwendigen Vertrauensvorschuss einräumen. Die Idee, deutschen Besuchern im Ausland Auftragslisten ins Gepäck zu geben, die abzuarbeiten sind, macht eine verantwortliche Außenpolitik nicht gerade leichter. Es ist in der Tat der Zeitpunkt für eine große außenpolitische Debatte in Parlament und Öffentlichkeit gekommen.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Bundesaußenminister.

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