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Meinung: Zu viel des Guten ist nicht gut

Warum ein Schulfach „Nationalsozialismus“ falsch wäre Von Richard Schröder

Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat den Vorwurf erhoben, im Geschichtsunterricht unserer Schulen werde der Holocaust nicht genügend berücksichtigt. Empfohlen wird, per Gesetz bundesweit ein eigenes Schulfach „Nationalsozialismus“ einzurichten.

Ich kann weder die Diagnose bestätigen, noch von der Therapie etwas Gutes erwarten. Damit ich nicht falsch verstanden werde: In jeder Schulart muss der Nationalsozialismus mit seinen Verbrechen gründlich behandelt werden. Ich kann aber nicht erkennen, dass dies in relevantem Umfang unterbleibt oder gar das Vergessen droht. Ganz und gar abwegig erscheint mir die Forderung nach einem eigenen Schulfach, das neben dem Geschichtsunterricht ausschließlich den Nationalsozialismus behandelt, und zwar aus folgenden Gründen.

Erstens. Der Grundsatz „viel hilft viel“ ist eher selten erfolgreich anwendbar. Öfter ist zu viel des Guten nicht mehr gut. Das gilt besonders für moralische Mahnungen. Nicht alle Absolventen von Klosterschulen sind gute Katholiken geworden. Manche fühlten sich überfüttert. „Pfarrers Kinder, Müllers Vieh geraten selten oder nie.“ Überfütterung führt im besseren Fall zu Desinteresse, im schlimmeren Fall zu Ablehnung. Sie ist kontraproduktiv.

Zweitens. Es ist ein intellektualistisches Missverständnis, dass Antisemitismus und Rassismus auf Informationsdefiziten beruhen. Soeben melden die Zeitungen, dass in einem Dorf in Sachsen-Anhalt Rechtsextreme mit dem „Tagebuch der Anne Frank“ erst Fußball gespielt und es dann öffentlich verbrannt haben. Wir wissen nicht, ob sie das Buch gelesen hatten. Mindestens die Anstifter haben aber gewusst, welches Buch sie da ausgewählt haben. Einfallstore für rassistisches und nazistisches Gedankengut sind in der Regel nicht Informationsdefizite, sondern Ressentiments, das Gefühl zu kurz gekommen zu sein oder zu wenig Anerkennung zu finden. Dann muss ein Sündenbock her. Klares Feindbild, einfaches Weltbild, eingebildete Überlegenheitsgefühle und der Gruppengeist: Das macht extremistische Positionen attraktiv.

Drittens. Die Betrachtung des Schrecklichen ist für sich nicht heilsam. Die alten Griechen haben sich den Mythos von den Gorgonen erzählt. Das sind die Göttinnen des Schreckens. Wer die Gorgonen, das Schreckliche also, anblickt, versteinert. Perseus besiegt die Schreckensgöttin Medusa, indem er sie durch den Spiegel seines Schildes, indirekt also, betrachtet. In diesem Mythos steckt Weisheit. Der unmittelbare Anblick des Schrecklichen versteinert. Das gilt auch für die Bilder der Leichenberge. Sie sind zur täglichen Betrachtung schlechterdings ungeeignet. Wer hier den Blick abwendet, beweist nicht unbedingt Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern, viel eher ein Wissen von der lähmenden, versteinernden, traumatisierenden Macht des Schrecklichen. Wir können das Schreckliche nur gespiegelt verkraften. Solche Spiegel, durch die wir uns die Schrecken der Nazizeit vergegenwärtigen können, ohne zu versteinern, sind Geschichten, Biographien, wie das Tagebuch der Anne Frank oder das von Victor Klemperer.

Viertens. Moralisch bedeutsam an einem Mord ist doch nicht die möglichst detaillierte Darstellung seines Vollzugs. Dann müssten ja die detaillierten Gewaltdarstellungen, die in unerträglichem Maße unsere Fernsehprogramme dominieren, lauter gewaltfreie Jugendliche erzeugen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie befördern und bestätigen Verrohung. Moralisch bedeutsam ist die Frage, wie jemand zum Mörder wurde. Analog dazu ist nicht so sehr die Frage politisch bedeutsam, wie die Nazis ihre Terrorherrschaft inszenierten, nachdem sie an die Macht gekommen waren, sondern wie sie an die Macht kommen konnten oder: warum die Weimarer Republik scheiterte. Wichtig ist zu wissen, was damals leichten Herzens aufgegeben wurde zugunsten eines angeblich viel Besseren, nämlich die Freiheitsrechte und ihre institutionellen Garantien. Am Nationalsozialismus kann man, wie an jeder Diktatur nur erkennen, was passiert, wenn die fehlen. Was man an ihnen hat, kann man nur dort studieren, wo es sie gibt und gab.

Fünftens. Kein Mensch und auch kein Volk kann allein aus der Betrachtung seiner Katastrophen Orientierung und Zuversicht gewinnen. Der Geschichtsunterricht muss deshalb auch den erfreulicheren Seiten deutscher Geschichte vor 1933 und nach 1945, vor allem aber nach 1989 Raum geben. Wenn die deutsche Geschichte so stilisiert wird, dass wir uns eigentlich schämen müssen, Deutsche zu sein, spielen wir dem Rechtsextremismus in die Hände. „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“, hat Odo Marquard einmal gesagt. Das Schulfach „Nationalsozialismus“ ist leider bloß gut gemeint.

Der Autor ist Theologe an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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